Björn Sellemann, Göttingen1; Irene Maier, Berlin2
1 Gesundheitscampus Göttingen, eine Kooperation der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen und der Universitätsmedizin Göttingen (UMG); Leiter der GMDS-Arbeitsgruppe „Informationsverarbeitung in der Pflege“
2 Vizepräsidentin und Leiterin der Expertengruppe „Digitalisierung“ des Deutschen Pflegerates e.V.
1. Stand der Informationsverarbeitung in der Pflege
Im September 1982 fand in London die erste internationale Konferenz für Nursing Informatics unter dem Motto „The Impact of Computers on Nursing“ statt (Scholes et al., 2000, S. 13). Zu jener Zeit wurden englische Krankenschwestern von wenigen Personen aus dem Management einzelner Krankenhäuser ermutigt, an Veranstaltungen teilzunehmen, in denen die Einführung von Informationssystemen in der stationären Krankenversorgung diskutiert wurde, aber eben auch zu jener Zeit, als einige Ärzte und Computerfachleute dies ablehnten, und dies so oder ähnlich formulierten: „They need not bother their pretty little heads about such matters.” (Scholes et al., 2000, S. 13).
Heute im Jahr 2023, in einer Zeit, in der Anwendungen mithilfe von Verfahren der Künstlichen Intelligenz wie z. B. ChatGPT (GPT = Generative Pre-trainend Transformers) menschenähnlich kommunizieren können und es so ermöglichen, z. B. automatisiert Hausarbeiten für den schulischen Bereich erstellen zu lassen, erfolgt die Informationsverarbeitung in der Pflege in der Regel in Informationssystemen des Krankenhauses und der Pflegeeinrichtungen.
Pflegerische Anwendungssysteme und berufsgruppenübergreifende Patientendokumentationen
Pflegerische Anwendungssysteme sind heute im professionellen pflegerischen Alltag allgegenwertig, da eine große Vielfalt an Daten und Informationen in der handlungs- und wissensbezogenen Profession Pflege zu erfassen und zu verarbeiten ist. Ohne digitale Werkzeuge ist dies heutzutage kaum mehr denkbar (Hübner et al., 2023, S. 35). Da die Pflege eine Vielzahl an informationsverarbeitenden Aufgaben im Kontext der Patientenversorgung übernimmt, ist es nachvollziehbar, dass selten ein einziges Anwendungssystem alle Aufgaben in der Pflege allein erfüllen kann.
Die Pflege ist im Krankenhaussetting vielfach der zentrale Ansprechpartner im interdisziplinären Versorgungsprozess und fungiert quasi als „Informationsdrehscheibe“ in einem multiprofessionellen Team - dieser Rolle müssen auch die Anwendungssysteme gerecht werden. Die berufsgruppenspezifische Dokumentation in eigenständigen Anwendungssystemen wie in Pflegeinformationssystemen oder klinischen Arbeitsplatzsystemen sollte zukünftig der Vergangenheit angehören, es sollte die Etablierung einer berufsgruppenübergreifenden Patientendokumentation forciert werden. Denn aktuell nutzt die Pflege im interdisziplinären Versorgungsprozess viele Anwendungssysteme, welche auch von anderen Professionen verwendet werden. Diese Vielfalt an Anwendungssystemen erschwert die Informationslogistik, denn die Informationen sind in sehr vielen Anwendungssystemen verteilt gespeichert, was das Finden und Zusammenführen von Informationen erschwert und zu widersprüchlichen Daten führen kann (Hübner et al., 2023, S. 36). Aus Patientensicht kann sich dies zum Beispiel im Rahmen der Anamneseerfassung vor einer Operation (z. B. Operateur, Anästhesist, Pflegekraft) dadurch widerspiegeln, dass der Patient den verschiedenen Professionen wiederholt die gleichen Informationen zu seinem Gesundheitszustand geben muss. Da jede Profession in ihrem eigenen professionsspezifischen Anwendungssystem dokumentiert, stehen diese Informationen in der Regel den anderen Professionen in deren Anwendungssystemen nicht zur Verfügung. Aber alleine die Dokumentation aller beteiligten Professionen in einer zentralen Patientendokumentation löst nicht das Problem, aber es wäre ein wichtiger Schritt hin zur Prozessoptimierung innerhalb der interprofessionellen Patientenversorgung. Darüber hinaus ist insbesondere die semantische Interoperabilität der verschiedenen professionsspezifischen Versorgungsdaten erforderlich. Aus pflegerischer Sicht ist die Verwendung pflegerischer Fachsprachen die Voraussetzung dafür, dass Pflegende untereinander und mit anderen Berufsgruppen professionell und eindeutig Informationen austauschen können. Pflegerische Fachsprachen stellen die Basis für die Pflegedokumentation und den Austausch von patientenbezogenen Informationen dar (Hübner et al., 2023).
Pflegepersonalbemessung im Krankenhaus
Der Einsatz von pflegerischen Klassifikationen im Rahmen der pflegerischen Dokumentation war und ist in Deutschland eher zurückhaltend. In der Regel werden pflegerische Informationen über hausinterne pflegerische Standards sog. „Hauskataloge“ oder über Freitexteingaben in Pflegedokumentationssystemen erfasst. Jedoch ist ein Trend durch die Möglichkeiten des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) im Krankenhaussetting festzustellen, dass verstärkt pflegerische Klassifikationssysteme in pflegerischen Anwendungssystemen eingesetzt werden. Hinzu kommt ab 2025 die verpflichtende Einführung der Pflegepersonalbemessung im Krankenhaus (PPR 2.0) aufgrund des Ende 2022 verabschiedeten Krankenhauspflegeentlastungsgesetzes (KGPflEG). Ziel des Gesetzes ist es unter anderem, die Personalsituation der Pflege in den Krankenhäusern mittelfristig zu verbessern. Hierzu werden Idealbesetzungen für die Stationen auf Grundlage des Patientenklientels und dessen pflegerischen Unterstützungsbedarfs errechnet. Dazu soll ein Instrument zur Personalbemessung (PPR 2.0) eingesetzt werden, welches im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege von den Beteiligten auf Basis der „alten PPR“ (Bestandteil des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1992, der 1996 wieder ausgesetzt wurde) entwickelt wurde. Wie aber wird der pflegerische Unterstützungsbedarfs ermittelt? Dazu müssen die Patienten täglich in vier Grund- und Spezialpflege-Leistungsstufen eingeteilt werden. Jeder Stufe ist ein Minutenwert zugeordnet. Hinzu kommen Grund- und Fallwerte als Basis. In der Summe ergibt sich ein Zeitwert pro Patient und Tag, der den Pflegepersonalbedarf auf Grundlage des pflegerischen Unterstützungsbedarfs der Patienten abbildet. Die Einteilung der Patienten in die vier Grund- und Spezialpflege-Leistungsstufen kann wie zu Zeiten des Gesundheitsstrukturgesetzes formularbasiert auf Papier oder digital erfolgen. So könnte sich die Pflegefachperson nach und nach durch das digitale Formular „klicken“, oder die Einteilung in die vier Grund- und Spezialpflege-Leistungsstufen erfolgt automatisch auf Grundlage bereits vorhandener dokumentierter, pflegerischer Informationen der eingesetzten Informationssysteme wie z. B. Pflegeinterventionen anhand einer standardisierten pflegerischen Fachsprache aus dem Pflegeinformationssystem.
2. Berufspolitische Betrachtung der Digitalisierung der Pflege
Wie aber werden die skizzierten Veränderungen der Digitalisierung der Pflege in Deutschland aus pflegeberufspolitischer Sicht wahrgenommen bzw. bewertet?
Der demographische Wandel, der Fachkräftemangel, das vorhandene Know-how in der Profession Pflege, der medizinische Fortschritt und nicht zuletzt die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie zeigen, dass das Pflegesystem in den kommenden Jahrzehnten große Herausforderungen meistern muss. Eine durchdachte Digitalisierung in der Pflege kann helfen, Strukturen und Prozesse zukunftsfest zu gestalten. Darüber hinaus kann Digitalisierung auch die Attraktivität des Pflegeberufs steigern und zugleich die Pflegequalität verbessern. Sie kann von Bürokratie entlasten, Tätigkeiten effektiv unterstützen und damit Freiräume in der Patientenversorgung schaffen. Eine digitale Vernetzung verbessert die Zusammenarbeit aller Akteure in der Patientenversorgung einschließlich der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.
Allerdings wird die Digitalisierung in der Pflege aus Sicht vieler pflegerischer Interessensvertretungen noch an vielen Stellen ausgebremst. Fragen nach geeigneten technischen Standards, einer Sprachsystematik bis hin zur Refinanzierung, die die Ausstattung, die Betriebskosten als auch die Schulungsnotwendigkeiten betrifft, bleiben ungeklärt. Der rechtliche Rahmen stammt teils noch aus der „Zeit der Schwarzwaldklinik“ und wird den aktuellen Erfordernissen nicht gerecht.
Die Erfahrungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass die Digitalisierung in der Pflege strategisch und ganzheitlich angegangen werden muss. Der rechtliche Rahmen ist umfassend anzupassen, die Chance dazu muss im angekündigten Digitalisierungsgesetz zwingend ergriffen werden. Auch unter dem Wissen, dass die Umsetzung der Personalbemessungsinstrumente sowohl im Krankenhausbereich als auch in den Einrichtungen der Langzeitpflege dringend der digitalen Unterstützung bedarf.
Dabei sind bedarfsgerechte Lösungen zu berücksichtigen. Zielführend ist ein interdisziplinärer Ansatz, der die Perspektiven aller beteiligten Akteure insbesondere des Pflegepersonals, der Pflegeeinrichtungen, der Pflegebedürftigen, der IT-Hersteller und Dienstleister mit ihren Schnittstellen einbezieht. Im Jahr 2020 hat sich das Bündnis Digitalisierung in der Pflege gebildet und seitdem mehrere Positionspapiere veröffentlicht. Gefordert werden Maßnahmen und Regelungen in den Bereichen: Nationaler Strategieplan und begleitende Strukturen, Digitalisierung von Prozessen, Interoperabilität und Telematik, digitale Innovationen, Refinanzierung von IT-Kosten und IT-Personal, digitale Kompetenzen und Teilhabe.
3. Aufbau und Implementierung eines Kompetenzzentrums „Digitalisierung in der Pflege“
Für die konsequente Umsetzung des nationalen Strategieplans „Digitalisierung in der Pflege“ braucht es erweiterte und bisher nicht vorhandene Strukturen. Daher empfiehlt das Bündnis den Aufbau eines „Kompetenzzentrums Digitale Pflege“, das als beratende und Orientierung gebende Organisationsstruktur beim Bundesgesundheitsministerium (BMG) geschaffen werden soll. Die Aufgaben des Kompetenzzentrums können in drei übergeordnete Bereiche eingeteilt werden: strategisch-umsetzende Aufgaben, technisch-fachliche Aufgaben und Netzwerkarbeit.
Zentrales Ziel in dieser Entwicklung muss eine durchgängige Digitalisierung von Versorgungs-und Verwaltungsprozessen sein. Dreh- und Angelpunkt des digitalisierten Pflegeprozesses ist die elektronische Dokumentation in allen Sektoren der Patientenversorgung. Deren flächendeckende Implementierung sollte von allen Akteuren angestrebt und gefördert werden.
Um dabei einen reibungslosen und sicheren Austausch pflegerelevanter Daten und Informationen zu ermöglichen, bedarf es einer Vernetzung aller Sektoren mit ihren Akteuren. Es ist und bleibt eine Aufgabe, mit dieser Struktur auch in der Zukunft eine sichere, qualitätsgebundene Versorgung abzusichern. Das Kompetenzzentrum muss an das BMG angeschlossen werden und darf nicht, weil die Kassenlage die Standards bestimmt, in die Struktur der Kassen eingebunden werden. Der Gesetzgeber hat dazu 2019 mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) den Grundstein für die Anbindung von Pflegeeinrichtungen an die Telematik-Infrastruktur (TI) gelegt, 2020 mit dem Patientendatenschutzgesetz (PDSG) insbesondere die Zugriffsrechte für Pflegefachpersonen auf die verschiedenen Komponenten der TI geregelt und 2021 mit dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) festgelegt, dass die Anbindung der TI für pflegerische Einrichtungen, die Leistungen nach §§ 37 und 37 c SGB V erbringen, zum 1. Januar 2024 verpflichtend ist.
4. Fazit und Perspektive
Pflege und Digitalisierung bilden erst dann eine Symbiose, wenn sie der pflegerischen Komplexität in ihrem jeweiligen pflegerischen Setting und Tätigkeitsfeld gerecht wird. Damit dies Realität wird und Einzug in die Routineversorgung findet, müssen Politik und Vertreter der Wissensdomäne Pflege zusammenarbeiten, um die künftigen Herausforderungen zu lösen und die Chancen der Digitalen Transformation der Pflege für die Pflegepraxis nutzen zu können. Die bisherigen Gesetzesvorhaben gehen in die richtige Richtung, schließen aber noch nicht alle erforderlichen Schritte ein. Nur das Drehen an einzelnen Stellschrauben reicht nicht mehr aus, um das System Pflege mit seinen vielfältigen, unterschiedlichen Facetten auf digital umzustellen.
Literaturverzeichnis:
Hübner, U., Ammenwerth, E. & Sellemann, B. (Hrsg.). (2023). Informationsverarbeitung in der Pflege: Digitalisierung verstehen, Versorgungskontinuität sichern (1. Auflage). Kohlhammer.
Scholes, M., Tallberg, M. & Pluyter-Wenting, E. (2000). International Nursing Informatics: A history of the first forty years: 1960-2000. British Computer Society.