1. Veränderte Rahmenbedingungen: Digitale Transformation statt IT follows business
Digitale Transformation (DT) bedeutet die branchenunabhängige Nutzung digitaler Technologien zur Verbesserung oder Transformation von Geschäftsprozessen oder Dienstleistungen. Sie ist ein wichtiger Erfolgsfaktor, um Geschäftsmöglichkeiten zu erweitern und auszubauen. Dabei bietet die digitale Transformation auch im Gesundheitswesen die Möglichkeit, Prozesse zu verbessern, Geschäftsfertigkeiten zu erweitern und die Patientenversorgung zu verbessern, die Effizienz zu steigern und dadurch auch ökonomisches Potential zu heben. Die digitale Transformation umfasst hierbei mehr, als heutige (und zum Teil wenig effiziente oder stark entwicklungsbedürftige) Prozesse einfach nur zu digitalisieren (vormals wurde dieser Ansatz als „IT follows business“ bezeichnet): Digitale Transformation meint die komplette Transformation der betroffenen Geschäftsprozesse und -felder. „Digitization“ geht gar über die digitale Transformation hinaus und umfasst die Bereitschaft und Umsetzung zur systematischen Transformation ganzer Unternehmen und erfordert eine sehr hohe digitale Reife. (1,2) Hierbei erlaubt die digitale Transformation und Digitization auch das Erschließen vollkommen neuer Geschäftsfelder, die vormals unerreichbar und verschlossen blieben. Beispiele im Gesundheitswesen sind die Telemedizin mit Videosprechstunden und Fernbehandlung sowie Robotik und viele mehr.
Bisher sind Chancen der digitalen Transformation im (deutschen) Gesundheitswesen aufgrund verschiedener Faktoren insuffizient genutzt. Dabei will das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) während seiner Laufzeit bis Ende 2024 eine nachhaltige Transformation in der stationären Gesundheitsversorgung erreichen, indem 4,3 Milliarden Euro für die Digitalisierung der deutschen Krankenhäuser bereitgestellt wurden. (3)
2. Voraussetzungen einer erfolgreichen Digitalen Transformation
Die digitale Transformation erfordert unter anderem suffiziente Investitionen. Hierbei wurden im Gesundheitswesen im Vergleich zu zahlreichen anderen Branchen bisher spürbar weniger und damit unterdurchschnittliche Ressourcen in die digitale Transformation und Digitalisierung investiert. Unter Expert*Innen besteht kein Zweifel, dass niedrig strukturierte „Datensilos“ veralteter klinischer Applikationen (sogenannte „Legacy“-Systeme) erheblichen Mehrwert liefern würden, sofern es gelingt, die digitale Reife zu erhöhen und diese Datensilos miteinander zu verbinden. (4) Neben suffizienten (finanziellen) Ressourcen ist vor allem eine präzise und umfassende Strategie zur digitalen Transformation essentiell. Diese sollte vor allem die geschäftsstrategischen Auswirkungen, die holistische Prozessverbesserung entlang umfassender Patient*Innen- und Mitarbeitenden-Pfade (oder auch als „Journey“ bezeichnet) mit meta-datenstrukturierter Datenverarbeitung umfassen. Weniger die Digitalisierung selbst, als die durch die digitale Transformation erreichbaren medizinischen Verbesserungen müssen als Ziele in den Vordergrund. (5) Auch im Gesundheitswesen gilt: Digitalisierung hat kein Selbstzweck! Klinische Verbesserungen durch neue Technologie, die Art und Weise des Angebots der Medizin und/oder das Management wurden schon in einer KMPG-Publikation 2015 als zentrale Ziele herausgehoben. (6) Zugleich beschreibt ein Experten-Panel der Europäischen Union im Jahre 2019, dass die Mehrwerte durch Digitalisierung im Gesundheitswesen oft nicht klar bekannt sind, nicht messbar oder extern validierbar sind und die Chancen der digitalen Transformation daher häufig ungenutzt bleiben. (7) Besonders sichtbar wurde dieses Problem während der Pandemie durch das Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus Type 2 (SARS-CoV-2), das mit einer vollständigen Disruption des vormaligen primären Präsenzversorgungsangebots im (deutschen) Gesundheitswesen einherging. Aus der Not und durch den extrinsischen Zwang bei zugleich häufig fehlenden Digitalisierungsstrategien im Gesundheitswesen erfolgte bereits im ersten Jahr der Pandemie eine global erhebliche Akzeleration: Ziele waren hierbei die Verbesserung der Patientenzufriedenheit, die Steigerung der Versorgungsqualität, Erlössicherung und -stabilisierung sowie Zufriedenheitsverbesserung von Patient*Innen und Mitarbeitenden und mehr. (8) Von der Online-Terminbuchung über Videokonferenzen und Sprechstunden: Plötzlich schien das vormals Unmögliche möglich. Scheinbar plötzlich erhielt auch das über 20 Jahre alte Vorhaben der Elektronischen Patientenakte im März 2023 durch öffentlich sichtbare Unterstützung des Bundesgesundheitsministers Lauterbach neuen Schwung und soll bis Ende 2024 jedem zur Verfügung stehen. Die Mehrwerte der ePA sind offensichtlich: Die überall niederschwellig und durch Patient*Innen steuerbare Möglichkeit zur Einsichtnahme in die relevante medizinische Vorgeschichte für Behandlungsbeteiligte. Damit kann ein Ende des legendären „DIN A4-Ordners mit medizinischen Behandlungsunterlagen“ wirklich real werden. Was hat die stellenweise erhebliche Beschleunigung der Digitalisierung auch im Gesundheitswesen ermöglicht? Es war neben suffizienten (finanziellen) Ressourcen vor allem der starke extrinsische Zwang, der die Akteure zum Umdenken gebracht hat. Postpandemisch wird der weitere Erfolg nur gelingen, wenn eine reife Strategie zur digitalen Transformation bei gleichzeitig konsequenter Umsetzung in den Einrichtungen gelebt wird. Für diese digitale Reife werden neben einer Strategie vor allem entsprechende Governance und ein geeignetes (Senior) Management, die notwendigen informationstechnischen Kapazitäten, entsprechend qualifizierte Mitarbeitende in der IT und Fachebene, interoperable (IT-)Systeme, geeignete Daten-Analyse-Systeme und ein starker Fokus auf die Patienten benötigt. (8) Auch im Gesundheitswesen muss gelten, was in anderen Branchen längst der absolute Standard ist: „Client centricity“ - die Patientin oder der Patient und nicht die (Selbst-)Verwaltung oder sonstige Akteure der Erlössicherung müssen in den Mittelpunkt! Um diesen ganzheitlichen Transformationsansatz erreichen zu können, braucht es die richtigen Rahmenbedingen: Eine nationale politische Gesundheitsstrategie, die Karl Lauterbauch erst im Frühjahr 2023 angekündigt hat, die notwendige digitale Reife der Entscheider auf allen Ebenen sowie suffiziente Digitaltransformationsstrategien für Kliniken und/oder Krankenhausträger - Einzelprojekte mögen zwar sichtbar sein, versprechen hingegen wenig nachhaltigen Erfolg.
3. Die Rolle des Chief Medical Information Officer
Die Rolle des Chief Medical Information Officer (CMIO) ist bisher in Deutschland noch nicht weit verbreitet und findet sich derzeit nur an einzelnen Einrichtungen, während CMIOs im angelsächsischen Raum deutlich frequenter vorzufinden sind. CMIOs wurden erstmals Anfang der 1990iger Jahre beschrieben. Vom Profil handelt es sich regelhaft um klinische Mitarbeitende, zumeist Ärztinnen und/oder Ärzte, mit besonderen Qualifikationen im Bereich IT, Management von IT und/oder Digitaltransformation sowie Informatik. Sie haben eine wichtige Rolle, nämlich die notwendige Voraussetzung sowie Umsetzung der digitalen Transformation im Gesundheitswesen zu verantworten und/oder zu koordinieren. Ihre Fähigkeiten, sowohl Management-, Digital- als auch Fachkenntnisse zu besitzen und alle an der Digitaltransformation beteiligten Personen kommunikativ erreichen zu können, ist von herausragender Bedeutung. Sie haben einen wichtigen Anteil an dem strategischen Alignement und der konzeptionellen Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Transformation sowie konkreten Umsetzung. Technisch sind vor allem Klinische Informationssysteme (KIS) und Klinische Arbeitsplatzsysteme (KAS), Computerisiertes Order Entry (CPOE), der Austausch von Gesundheitsinformationen entlang internationaler Standards (IHE) sowie andere klinische Systeme Ihrem Fokus. Organisatorisch können CMIOs unterschiedlich eingeordnet sein und direkt an den Ärztlichen Direktor, den IT-Leiter oder andere Entscheidungsträger berichten. Nebst Strategieverantwortung, Governance und Policy-Verantwortung sind sie verantwortlich für die System-Entwicklungspipeline, die Kommunikation an das medizinische und administrative Umfeld und das Management von Entscheidern im medizinischen Alltag, die Kapazitätsentwicklung, den Aufbau und die Vermittlung entsprechender digitaler Kompetenzen und Reife für IT und Medizin sowie die Datenstruktur und -qualität. (9, 10) Insbesondere für die Konsolidierung der Daten und Verbesserung der Datenqualität hat sich in anderen Branchen bereits die Zusammenarbeit mit einem Chief Data Officer (CDO) etabliert. Diese Berufsgruppe ist im (deutschen) Gesundheitswesen bisher kaum anzutreffen und vom Grundsatz auch als Schnittstelle mit der deutschen Medizin-Informatik-Initiative denkbar.
4. Wie geht es jetzt weiter? Ein subjektiver Ausblick nach „Legacy“-Systemen und dem Krankenhauszukunftsgesetz
Digitale Transformation und Digitization kann die Medizin unzweifelhaft qualitativ und quantitativ verbessern. Während in Deutschland nach wie vor über Datenhoheit und Zweckbindung im Detail gestritten wird, zeigen andere Länder, wie es besser geht: Während der gesamten Pandemie publizierten israelische Klinikketten fortwährend und praktisch in Echtzeit zur eindrucksvollen Wirksamkeit von Covid 19-Impfungen in der Kohorte Ihrer Versicherten zur Reduktion von Mortalität, Hospitalisierung und symptomatischer Infektion. Während deutsche Gesundheitsdaten heute primär zur Abrechnung genutzt werden, werden diese in Holland bereits verwendet, um die medizinische Behandlungsabläufe durch „data mining“ zu verbessern und die Mortalität erkrankungs- und entitätsbezogen „on the fly“ und „in real time“ zu reduzieren!
Was muss also geschehen, damit sich die Situation in Deutschland ändert? Das Krankenhauszukunftsgesetz ist ein Anstoß: Die stationären (Supramaximal-)Versorger müssen zur Umsetzung Ihrer Vorhaben Strategien entwickeln, die digitale Kompetenz stärken und spürbar ausbauen. Neben einer reinen Betrachtung aus IT-Sicht ist hierbei vor allem die Sichtweise der Klinikleitungen entscheidend: Digitale Transformation gelingt in Unternehmen regelhaft nicht „bottom-up“, sondern nur mit einer kohärenten und fokussierten Strategie auf allen Ebenen. Es geht hierbei weniger um das Usurpieren medizinischer Prozesse durch die IT, denn mehr um eine holistische Betrachtung der (digitalen) Medizin aus Sicht der Patienten. Der Gesetzgeber und die Kostenträger wären hierbei gut beraten, den entsprechenden Rahmen mit klaren Zielen und messbaren Umsetzungskriterien vorzugeben sowie die entsprechenden Investitionen zu ermöglichen. Schlussendlich würde sehr wahrscheinlich eine stärkere Fokussierung auf das Ziel und deutlich stärkeres Management und Produktmanagement auch zur Veränderung eines verbleibenden anderen Problems führen: Ein großer Teil der deutschen Kliniken und ein noch größerer Teil aller Universitätskliniken nutzt mit dem SAP R3-basierten Branchenmodul Integrated Solution Healthcare (IS-H) eine spätestens für 2027 abgekündigte Betriebsumgebung Ihrer klinischen Produktivsysteme. Neben zahlreichen Legacy-Applikationen (KIS-Systeme wie beispielsweise Oracle / Cerner i.s.h.med., CompuGroup Medical (CGM) medico, T-Systems iMedOne, Dedalus Orbis und eine erhebliche Menge an medizinischen Fachanwendungen oder Fachapplikationen unterschiedlichster Hersteller aus dem In- und Ausland) ist derzeit nur ein sehr prozessstarkes und finanzressourcenintensives IT-System eines Herstellers aus den Vereinigten Staaten von Amerika am Markt verfügbar. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nannte es neuerlich auch öffentlich: Epic! Ob die Anwendung eines primär US-prozessbasierten klinischen ERP-Systems wirklich nachhaltig zur Transformation beiträgt (und bezahlbar sein wird), ist indes nur eine Hypothese. Bleibt zu hoffen, dass die Medizin von den Erfahrungen anderer Branchen und aus dem privaten Verbrauchermarkt lernt: Echte Mehrwerte lassen sich nur gemeinsam und bei entsprechender Reife heben! Die Akteure im Gesundheitswesen sind für eine nachhaltige Digitaltransformation und damit eine spürbare Verbesserung der Medizin gut beraten, sich strategisch besser abzustimmen und mehr zu kollaborieren.
5. Fazit
Das deutsche Gesundheitswesen ist in der Informationsverarbeitung in einem starken Umbruch. Viele Behandlungsprozesse werden noch immer suboptimal unterstützt. Die Hoffnung liegt auf effektiven lokalen Digitalstrategien und ihren optimalen Umsetzungen, einer das komplette Gesundheitswesen abdeckenden nationalen Digitalstrategie und finanziellen Unterstützungen durch den Bund und die Länder. Eine entscheidende Vermittlerrolle von Ärzteschaft, Pflege, Verwaltung und Vorstand zur IT übernimmt der Chief Medical Information Officer (CMIO). In der Regel besitzt er umfangreiche anwenderorientierte Gestaltungsmöglichkeiten, die die Medizin durch die Digitale Transformation unzweifelhaft entscheidend qualitativ und quantitativ verbessern können.
Referenzen
Letzte Einsicht jeweils am 21. Juni 2023.
(1) https://catalyst.nejm.org/doi/full/10.1056/CAT.21.0434
(2) https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-319-95273-4.pdf, page 349ff
(3) https://www.bundesgesundheitsministeri ... enhauszukunftsgesetz.html
(4) https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-65896-0_3
(5) https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-65896-0_2
(6) https://www.atmedics.com/wp-content/up ... gital-care-17-02-2016.pdf (page 5)
(7) https://health.ec.europa.eu/system/fil ... altransformation_en_0.pdf
(8) https://www2.deloitte.com/us/en/insigh ... n-in-healthcare.html.html
(9) https://en.wikipedia.org/wiki/Chief_medical_informatics_officer
(10) http://www.hersher.com/ChiefMedicalInformationOfficerandBeyond.pdf
Autor: PD Dr. Christoph Spinner, München