Stand der Informationsverarbeitung aus Sicht der Gesundheits-IT-Industrie

Veröffentlicht 12.07.2023 03:20, Kim Wehrs

Einführung „Das … ist kein Ende und kein Anfang, sondern ein Weiterleben mit der Weisheit, die uns die Erfahrung gelehrt hat.“ [Harold Glenn Hal Borland]

Wo beginnt die Informationsverarbeitung im Gesundheitswesen? In der Mitte der 1960iger Jahre startete in den USA die Reise der IT im Gesundheitswesen - in verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens und in sehr unterschiedlichen Unternehmen. Ausgangspunkt waren dort die Hersteller von Hardware, in Deutschland hingegen Rechenzentren und Kommunale Betriebe. Das änderte sich in den 90iger Jahren, als in Deutschland der Mittelstand „durchstartete“, bis ca. 10 bis 12 Jahre später die erste Konsolidierungs- und Übernahmewelle einsetzte. Das „bunte Treiben“ hält weiter an, die Konsolidierung des Marktes scheint noch nicht abgeschlossen.

Dieser Artikel widmet sich einer Momentaufnahme der Informationsverarbeitung im Gesundheitswesen mit Fokus auf der ambulanten und stationären somatischen Versorgung. Aufgrund des vorgegebenen Textumfangs können die Abteilungs- oder Subsysteme wie Radiologie, Labor, Apotheke, Notfallversorgung, Intensivmedizin, aber auch Psychiatrie, Rehabilitation oder ambulante Pflege in ihrer Vielfalt im Folgenden nur gestreift, aber nicht adäquat betrachtet werden.

Letztlich haben aber alle Systeme eine ähnliche Entstehung und eine - zumindest auf einer abstrakten Ebene - ähnliche Weiterentwicklung durchgemacht. Perfekt beschreibt diese Entwicklung das Zitat von Antoine de Saint-Exupéry

Technik entwickelt sich immer vom Primitiven über das Komplizierte zum Einfachen.“

Die Anfänge bis zur Jahrtausendwende: „das Regulativ - nicht der Nutzen - bestimmt

Die IT im Gesundheitswesen entstand in den 1960igern mit Großrechnern in den USA. Vieles basierte auf MUMPS (Massachusetts General Hospital Utility Multi-Programming System), das überwiegend auf der damals weitverbreiteten DEC (Digital Equipment Hardware) lief und noch heute in weiterentwickelter Form von Intersystems u. a. bei EPIC (derzeit größter KIS-Anbieter mit ca. 78% der amerikanischen Patienten), im Einsatz ist. In Deutschland startete die IT im Gesundheitswesen mit den sogenannten Bund-Länder-Programmen in den (überwiegend) kommunalen Rechenzentren sowie mit einigen innovativen Ideen in kirchlichen Rechenzentren in enger Zusammenarbeit mit einzelnen Professoren der Medizininformatik, u. a. Prof. Dr. med. Wolfgang Giere. In den 80igern/90igern eroberten mittelständische Unternehmen wie Dataplan, BOSS AG, Meierhofer AG und Nexus den Markt der Krankenhaussoftware. (Wehrs, 2019)

In den Arztpraxen war die Entwicklung ähnlich. Erste Ansätze in den 70igern und 80igern, der Durchbruch kam mit dem Regulativ: Die Kommunalen VersorgungsKassen (KVK) zwangen / veranlassten auch Ärzte, die der IT kritisch gegenüberstanden, Praxiscomputer anzuschaffen. Durch die Zusammenarbeit mit einem Generikahersteller konnte der Preis für eine Einzelplatzlösung von 16.000 DM auf 999 DM (subventioniert) sinken. 1995 mussten viele Praxen aufgrund der neu eingeführten Krankenversicherungskarte umstellen.

Die ersten 20 Jahre des Jahrtausends: “ohne Moos nix los

Ende der 90iger Jahre und zu Beginn des neuen Jahrtausends befindet sich die Digitalisierung in einem Dilemma: Die IT wird nur da eingesetzt, wo es ohne sie nicht geht, weil z. B. eine neue Verordnung ohne IT nicht mehr umsetzbar scheint, oder wo Daten gemäß einer gesetzlichen Vorgabe digital zu liefern sind. Das führt zu folgender – schematisch – dargestellter Situation:

Das befriedigt insbesondere die Anwender im klinischen Bereich (Ärzteschaft und Pflege) überhaupt nicht, denn es führt zu Doppelarbeiten und der Suche nach Informationen sowohl in der IT als auch in der analogen Dokumentation. Die chronische Unterfinanzierung des stationären Bereichs hält über viele Jahre an. Der Wettbewerb unter den Anbietern wird härter, die Zeit der Aufkäufe beginnt.

Die großen Unternehmen wie IBM, Microsoft und letztlich auch Siemens und Philips scheitern in der ersten und zweiten Dekade des neuen Jahrtausends, ziehen sich aus dem KIS- und AIS-Bereich zurück und konzentrieren sich bei der Digitalisierung auf medizinische Geräte oder - wie in den USA - auf Konsumenten-Anwendungen.

Auch die Patientenakten-Versuche/Entwicklungen von Microsoft, Amazon und Google flackerten kurz auf, um letztlich wieder zu verschwinden. Es bleibt ein Markt für Mittelständler und Spezialisten - aber auch dort gab es grundlegende Veränderungen. Firmen wie Laufenberg, Fliegel Data, BOSS, micom, Systema, Torex GAP, Tiani, Waldbrenner, ITB AG und Medos - um nur einige zu nennen - gingen in größeren Unternehmen auf. Wie immer in der Industrie fanden sich breit aufgestellte (KIS-)Anbieter und hoch spezialisierte Nischenanbieter. Deshalb kam der Interoperabilität zwischen den Anbietern schon sehr früh große Bedeutung zu - insbesondere rund um HL7 (Health Level 7), einer Gruppe internationaler Standards für den Datenaustausch zwischen Organisationen im Gesundheitswesen und deren Computersystemen. Die Zahl 7 bezieht sich auf die Schicht 7 des ISO/OSI-Referenzmodells für die Kommunikation und drückt damit aus, dass hier die Kommunikation auf Applikationsebene beschrieben wird. (Wikipedia, 2023)

HL7 Version 2 entstand in den 1970ern und zielte auf den einrichtungsinternen Datenverkehr eines Krankenhauses. Der Druck, Daten auch einrichtungs- und sektorübergreifend zu kommunizieren sowie mobile und cloudbasierte Anwendungen zu unterstützen, wächst ebenso wie jener, Interoperabilität innerhalb von Tagen und Wochen, statt Monaten und Jahren herzustellen. HL7 führt folgende Gründe für die Entwicklung modernerer Strukturen (FHIR-Format) auf seiner Homepage (HL7, 2023) an:

-       der Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen
Der Patient fordert zunehmend die Kontrolle über seine medizinischen Daten. Die Nachfrage, Patientendaten über Einrichtungs-, Fachrichtungs- und Landesgrenzen hinweg zu kommunizieren, steigt.

-       Online statt offline

Der Trend von Desktop zu Tablet, Software zu App, Patienten- zu Gesundheitsakte und Server zu Cloud hält seit Jahren an. FHIR ist agil, unterstützt mobile Architekturen und verbindet Patienten ortsunabhängig mit ihren Daten.

-       Mehr Transparenz
Elektronische Patientenakten verhalten sich wie Datengräber. Die Informationen, einmal archiviert, lassen sich von anderen Systemen kaum wieder abrufen, insbesondere nicht in kompatiblen Formaten. FHIR verhält sich wie eine offene Schnittstelle, um die Daten aus diesen Gräbern zu heben. Unterschiedliche Facetten einer Patientenakte werden in unterschiedlichen Systemen gespeichert. Moderne Werkzeuge erlauben es, diese verteilten Daten für den Anwender transparent zu aggregieren und weiterzuverarbeiten.

-       Mehr Analysen
Analysen benötigen transparenten Zugriff auf die Daten, doch müssen diese auch in analysierbaren Formaten vorliegen. FHIR verwendet Strukturen, die Auswertungen in die Breite sowie in die Tiefe optimal unterstützen. Beim Einsatz von FHIR erübrigt sich die Notwendigkeit, beispielsweise CDA-Dokumente in atomare Konzepte zu zerlegen, um diese analysieren zu können.

Aus der Sicht der Industrie ergeben sich hier völlig neue Perspektiven: Auf der einen Seite bedeutet das die Verabschiedung von monolithischen Strukturen und der (zum Teil durch ISIK erzwungenen) Öffnung für Systeme auch des Wettbewerbs. Auf der anderen Seite ergibt sich aber Potential für neue Zugänge der eigenen Lösungen in den Markt. Es geht zukünftig darum, in Plattformen zu denken und Lösungen zu schaffen, die eine echte Differenzierung zum Wettbewerb und maximalen Nutzen für die Anwender schaffen.

Startete HL7 schwerpunktmäßig mit der Interoperabilität verschiedener IT-Systeme in einer Einrichtung, wurde immer deutlicher, dass es auch Regelungen für den Austausch von Daten zwischen den Leistungserbringern im Gesundheitswesen bedarf. Dazu wurde im Januar 2005 die gematik GmbH  von den Spitzenorganisationen des deutschen Gesundheitswesens gegründet, um in Deutschland gemäß gesetzlichem Auftrag die Einführung, Pflege und Weiterentwicklung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und ihrer Infrastruktur voranzutreiben, zu koordinieren und die Interoperabilität der beteiligten Komponenten sicherzustellen. Auch dieses Regulativ führt für die Industrie zu zusätzlichen komplexen Herausforderungen - eine nahtlose Nutzung digitaler Prozesse zwischen allen Beteiligten im Behandlungsprozess und insbesondere des Patienten ist ausdrücklich gesetzlicher Gestaltungswille - doch auch hier zeigt sich, wie mühsam die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranschreitet. (gematik, 2023)

Heute: „Wenn Sie keine Strategie haben, sind Sie Teil der Strategie eines Anderen.“ Alvin Toffler

Am 29. Oktober 2020 trat das KHZG (Krankenhauszukunftsgesetz (Bundesgesundheitsministerium, 2023)) in Kraft. Mit einem Investitionsprogramm verschafft der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Krankenhäusern ein digitales Update. Der Bund stellt ab dem 1. Januar 2021 3 Milliarden Euro bereit, damit Krankenhäuser in moderne Notfallkapazitäten, die Digitalisierung und ihre IT-Sicherheit investieren können. Die Länder steuern weitere Investitionsmittel von 1,3 Milliarden Euro bei, so dass ein Gesamtprogramm von 4,3 Mrd. Euro entsteht, das gemäß dem zugrundeliegenden europäischen Konjunkturförderprogramm  bis zum 31.12.2024 in den Krankenhäusern umgesetzt sein muss. Und nicht nur das, hat doch der Gesetzgeber in §5 Krankenhausentgeldgesetz auch gleich einen Abschlag vereinbart, falls die Förderkriterien bis zum Ende der Laufzeit nicht vollumfänglich umgesetzt sind. (Justiz, 2023)

Das KHZG war weder für die Krankenhauslandschaft noch für die Industrie in dieser Form vorhersehbar und überraschend (oder auch nicht): Es fehlt eine Strategie! Voraussetzung für eine IT-Strategie ist eine Digitalstrategie, die sich wiederum aus der Unternehmensstrategie ableitet. Das ist in vielen Krankenhäusern immer noch Zukunftsmusik, und so sind Berater und die Industrie in besonderem Maße gefordert.

Gleichzeitig muss die Industrie ihre Software für die Anforderungen des KHZG abrunden. Und das KHZG ist auch ein massiver Schub für die Interoperabilität, geht doch das gedankliche Modell hinter den Fördertatbeständen nicht mehr von einer monolithischen Struktur, sondern immer mehr von Plattformen aus. Das führt mittel- bis langfristig zur Dekonstruktion der heute vorhandenen Systeme – ein gutes Beispiel ist das PACS: Die frühere Einheit aus Hardware, Datenspeicher und Software dekonstruiert sich in Storage, Middleware, Befundworkplace-Software etc. Es gibt also mehr als genug zu tun und es fehlt an „Armen und Beinen“ an allen Stellen gleichzeitig - d. h.  Ressourcen sind äußerst knapp auf der Nachfrager- wie auf der Anbieterseite. Es sind dringend kluge Ideen gefragt.

Die Zukunft: "Ein Ziel ohne Plan ist nur ein Wunsch." - Antoine de Saint-Exupéry

Das führt zur Frage „KIS aus der CLOUD“ – eine skalierende Software, standardisierte Prozesse für alle Krankenhäuser auf dem gleichen System und Nutzen statt Regulativ im Mittelpunkt des Softwareeinsatzes. Nutzen kann realisiert werden durch Artificial Intelligence (AI) / Künstliche Intelligenz (KI) und deep learning. Das Wissen wird gemanaged, dabei steht der Patient im Mittelpunkt.

Das ist auch in der Politik angekommen. Aufgrund der Ressourcennot, der demografischen Entwicklung und der fortschreitenden Patientenzentrierung entstehen Überlegungen zu intensiver Interoperabilität und Gesundheitszentren bis hin zu Modellen, die wir aus anderen Gesundheitssystemen kennen wie Triple, Quadruple oder gar Quintuple Aim, oft auch als Population Health Systeme bezeichnet.

Allen Modellen liegt ein intensiver Datenaustausch zugrunde. Damit entstehen neue Geschäftsmodelle rund um das Thema Daten - es könnte eine digitale Medizin entstehen: „…nimmt die digitale Datenerhebung und -verarbeitung exponentiell zu, und digitale Entwicklungen und Technologien fließen immer mehr zusammen.“ Topol (2013) sowie Hahn und Schreiber (2018) sprechen von einer Super-Konvergenz, welche die Grundlagen für einen TECH-GIGANTEN Neue Medizin im Gesundheitswesen lege. Mit diesen Entwicklungen innerhalb eines sich am Anfang digitaler Transformation befindlichen Gesundheitssystems gehen große Erwartungen an eine neue zukunftsfähige (digitale) Medizin einher (Topol 2015).

Zuguterletzt „Das Wesen der Strategie ist, zu entscheiden, was man nicht tut.“ -  Michael E. Porter

Wie im letzten Kapitel aufgezeigt, sind die Potentiale der Health IT schier unerschöpflich – umfassende Cloud-basierte Informatik- und Populations-Plattformen, integriertes Datenmanagement und Künstliche Intelligenz ermöglichen, die Silos zwischen den verschiedenen Segmenten des Gesundheitssystems zu durchbrechen. Menschen können in die Lage versetzt werden, die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übernehmen. Neue Geschäftsmodelle können entstehen. Dabei sind wichtige Fragen in Bezug auf den Datenschutz und die Grenzen dieser Systeme (insb. der KI/AI) zu beantworten, um eine optimale Versorgung zu ermöglichen und den potentiellen Missbrauch des vorhandenen Informationsschatzes zu verhindern. Es müssen Anreize für Leistungserbringer und andere Beteiligte geschaffen werden, den Zugang zur Versorgung, zur Gesundheit und zu Behandlungsergebnissen zu verbessern. (E.Oesterhoff, P.Gocke, H.Schneider, J.F.Debatin (Hrsg.), 2021)

Denn im Mittelpunkt aller Anstrengungen muss immer der Mensch stehen. Die Kunst wird für die Industrie darin bestehen, sich zu fokussieren und zu entscheiden, was man nicht tut.

 

Literaturverzeichnis

Bundesgesundheitsministerium. Krankenhauszukunftsgesetzhttps://www.bundesgesundheitsministeri ... enhauszukunftsgesetz.html, abgerufen am 01.02.2023.

E.Oesterhoff, P.Gocke, H.Schneider, J.F.Debatin (Hrsg.) (2021). Digitalisierung im Krankenhaus - Gestalten statt gestaltet werden. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

gematik. über uns: gesetzliche Grundlagen. https://www.gematik.de/ueber-uns/gesetzliche-grundlagen/, abgerufen am 01.02.2023.

HL7.     https://hl7.de/themen/hl7-fhir-mobile- ... tion-und-mehr/warum-fhir/, abgerufen am 01.02.2023.

Justiz, B. d. Gesetze im Internet. https://www.gesetze-im-internet.de/khentgg/__5.html, abgerufen am 01.02.2023.

Steven A. Schroeder, M. (2007). We can do Better - Improving the Health of the American People. The New England Journal of Medicine, 357:1221-1228.

Wehrs, H. (2019). Die Geschichte der Health IT. Dietzenbach: Antares Computer Verlag.

Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/HL7, abgerufen am 01.02.2023.

 
Autor: Bernhard Calmer, Area Vice President Businessdevelopment CompuGroup Medical (CGM)

 


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