Verarbeitung genomischer Daten und Integration dieser in Informationssysteme des Gesundheitswesens

Veröffentlicht 22.05.2023 05:00, Kim Wehrs

Dr. Patrick Metzger, Prof. Dr. Dr. Melanie Börries (beide Freiburg) 

Die Bereitstellung und Nutzung von genetischen Daten nehmen einen immer höheren Stellenwert in der Medizin bzw. Personalisierten Medizin ein. Der Begriff "Personalisierte Medizin" wird seit einigen Jahren verwendet, um einen Paradigmenwechsel in der Medizin zu beschreiben. Gezielte Prävention, systematische Diagnostik und der Einsatz von maßgeschneiderten Therapien und Wirkstoffen sollen die Effektivität und Qualität der Behandlung deutlich verbessern (Jahn et al., 2022; Hoefflin et al., 2018, 2021). Gerade durch die systematische und erweiterte molekulare Diagnostik und der damit einhergehenden genomischen Information besteht die Möglichkeit, neue Therapieoptionen als auch die Entdeckung von neuen Biomarkern oder Vorhersagen auf Therapieresistenzen zu generieren (Hoffmeister-Wittmann et al., 2022). Gleichzeitig sind aber auch sowohl die technischen, wissenschaftlichen als auch menschlichen Anforderungen mit dem Umgang und der Darstellung von genetischen Daten gestiegen. Somit sind herkömmliche Ansätze zur Verbesserung des genomischen Wissens zwar notwendig, aber unzureichend angesichts der Dynamik der genomischen Entdeckungen und des sich rasch ändernden Wissens, welches für die Nutzung der Genomik in der Patientenversorgung relevant ist. Dies erfordert innovative Ansätze zur Wissenssynthese, -darstellung, -abfrage und -präsentation, die idealerweise in einen neu gestalteten klinischen Arbeitsablauf integriert werden sollten, der die Bereitstellung relevanter genomischer Informationen "just in time" zur Unterstützung der klinischen Versorgung ermöglicht. Zugleich stellt das Fehlen eines standardisierten und strukturierten Formats eine große Herausforderung für genetische Daten im Krankenhausinformationssystem (KIS) dar.

 

Herausforderungen bei der Arbeit mit genomischen Daten

Die meisten Daten zu genomischen Informationen bzw. Varianten liegen als gescannte Dokumente vor, die als PDFs gespeichert sind. Informationen in dieser Form sind statisch und bieten keinen direkten elektronischen Bezugspunkt für die Nutzung bzw. Einführung weiterer klinischer Informationsressourcen. Außerdem variieren die Bezeichnungen bzw. die Namenskonventionen innerhalb, aber gerade auch zwischen den Einrichtungen, so dass die Verfolgung und Überwachung der Ergebnisse schwierig sind. Ohne einheitliche Struktur ist es schwierig, die Daten sinnvoll zu verarbeiten und zu nutzen. Eine einheitliche Struktur ermöglicht es Ärzt:innen, Daten von verschiedenen Patient:innen miteinander zu vergleichen und so Rückschlüsse auf die Behandlung zu ziehen. Dies hat dazu geführt, dass in der Regel diese Ergebnisse manuell in der Elektronischen Patientenakte eingegeben werden müssen. Diese Vorgehensweise ist zwar alles andere als ideal, aber sie ermöglicht die Verwendung von klinischen Entscheidungsunterstützungssystemen. Mit dieser Information als Grundlage wird es den Ärzt:innen ermöglicht, individuelle Behandlungsoptionen für Patient:innen zu identifizieren. Mit zunehmender Anzahl und Komplexität der genomischen Ergebnisse werden Ad-hoc-Lösungen wie diese jedoch unhaltbar, da immer mehr Ressourcen für ihre Pflege und die Dokumentation der Ergebnisse benötigt werden. Jeder manuelle Eingriff und jedes manuelle Verfahren bergen ein erhöhtes Fehlerrisiko, welches vermieden werden sollte. Aufgrund der stetigen Anforderungen und Umsetzungen von Personalisierter Medizin ist der Wunsch nach Verbesserung bei allen Beteiligten, sowohl den Anwendern als auch den Nutzern, sehr groß.

 

Analyse, Interpretation und Visualisierung der klinischen Informationen und der komplexen molekular­genetischen Daten

So ist der Bedarf an Personalisierter Medizin und vor allem deren Etablierung in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Die routinemäßige Anwendung der molekularen Profilerstellung zur personalisierten Behandlung von Tumoren hat sich in den letzten zehn Jahren an vielen deutschen Universitätsklinika durch die Einrichtung von Molekularen Tumorboards (MTBs) etabliert (Hoefflin et al., 2018, 2021; Horak et al., 2017; Lier et al., 2018). Eine große Herausforderung ist die Bereitstellung, Zusammenführung und Nutzung der komplexen klinischen und molekulargenetischen Daten sowohl für das Molekulare Tumorboard als auch für die translationale Forschung. Aufgrund dieser haben sich mehrere Initiativen mit dem Bestreben gebildet, die Verarbeitung und Integration von genetischen Daten zu unterstützen und im klinischen Alltag voranzubringen und zu etablieren. Unter anderem hat die Medizininformatik-Initiative (MII) hierbei einen großen Stellenwert eingenommen. Dabei wurden nicht nur durch die Standardisierung von notwendigen Kerndaten­sätzen, sondern auch durch die Use Cases „From knowledge to action - Unterstützung Molekularer Tumorboards“ des MIRACUM-Konsortiums (Prokosch et al., 2018) und „Onkologie“ des HiGHmed-Konsortiums wichtige Fortschritte für die Bereitstellung von standardisierten Toolsets erzielt (Buechner et al., 2020), die die Kliniker bei der Analyse, der Interpretation und Visualisierung dieser komplexen Daten effektiv unterstützen.

 

 

Abbildung 1: A) Schrittweise Vorgehen der Analyse von Sequenzierungsdaten (WES). B) Ausschnitte aus dem interaktiven PDF-Report eines MTB-Falles.

 

Darüber hinaus sind sowohl die Integration klinischer mit molekularen und genomischen Daten als auch die Visualisierung der gemeinsamen Analyseergebnisse erforderlich. Ein wichtiger Prozess für die Entscheidungsfindung im Molekularen Tumorboard (MTB) ist somit die Auswertung, Zusammenstellung und Darstellung der hochdimensionalen Sequenzierungsdaten, die sowohl für die Vorbereitung als auch die Fallvorstellung von allen Beteiligten genutzt werden sollten. Für die Auswertung der Sequenzierungsdaten müssen folgende Schritte berücksichtigt werden (Abbildung 1):

 

(i) Sequenzierungsdatei,

(ii) Vor-Prozessierung,

(iii) Alignment,

(iv) Abdeckung (Coverage),

(v) Bestimmung der Varianten (variant calling),

(vi) Bestimmung der Kopienanzahl und

(vii) Annotation.

 

Diese Schritte konnten im MIRACUM Use Case 3-Team durch die Bereitstellung der MIRACUM-Pipe (Metzger et al., 2022) ermöglicht werden. Die MIRACUM-Pipe umfasst eine automatische, parametergesteuerte Verarbeitung von OMICS-Daten mit nachfolgender Zusammenfassung der Ergebnisse durch einen interaktiven Report, der alle nötigen Informationen von der Anzahl der Mutationen bis hin zu den Kopienzahlveränderungen und Mutationssignaturen beinhaltet. Gleichzeitig liegen die Ergebnisse strukturiert vor und dienen zugleich als Input für die Visualisierungs­plattform cBioPortal.

 

Open-Source-Plattform cBioPortal

Die vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center entwickelte Open-Source-Plattform cBioPortal (Cerami et al., 2012; Gao et al., 2013) führt sowohl die klinischen als auch die genomischen Daten eines Patienten zusammen und visualisiert diese. Dabei wird  das Wesentliche aufbereitet, um die Interpretation der Daten zu erleichtern. cBioPortal bietet die Möglichkeit der lokalen Installation und dadurch der Integration in bestehende Systeme und die Erweiterbarkeit auf standortspezifische Anforderungen. Zusätzlich können sowohl die Darstellung der klinischen als auch der molekulargenetischen Informationen gezielt angepasst werden.

Abbildung 2: Für die detaillierte Visualisierung werden die molekulargenetischen Daten des MTB-Patienten zuerst mit klinischen Daten aus dem KAS ergänzt und im Stagingbereich zusammengeführt. Von dort werden sowohl die Versorgungs- als auch die Forschungsinstanz (inklusive Pseudonymisierung) befüllt. Funktionen aus der Versorgungsinstanz wie die Therapieempfehlung können anschließend aus dem KAS aufgerufen werden.

Integration in das Klinische Arbeitsplatzsystem

Eine Herausforderung einer lokalen cBioPortal-Instanz ist allerdings die Integration in das Klinische Arbeitsplatzsystem (KAS) und das Benutzermanagement. Idealerweise werden die klinischen Informationen und die molekulargenetischen Daten aus den entsprechenden klinischen Systemen extrahiert und im Stagingbereich zusammengeführt. Von dort werden dann sowohl die Versorgungs- als auch die Forschungsinstanz (inklusive Pseudonymisierung) befüllt. Gleichzeitig können Daten wie die Therapieempfehlung aus der cBioPortal-Versorgungsinstanz über standardisierte Schnittstellen wie FHIR zurück an das KAS fließen, von dem auch direkt cBioPortal aufgerufen werden kann (Abbildung 2). Um dieses zu gewährleisten und routinemäßig im klinischen Alltag zu nutzen, müssen die genannten Schnittstellen und Implementierungen für jedes Krankenhaus intern geschaffen bzw. gelöst werden. Dieses ist oftmals der Grund, weswegen neue und innovative Tools schlussendlich nicht genutzt werden können. Vor ähnlichen Herausforderungen und Problemen steht man bei der Analyse hochdimensionaler Sequenzierungsdaten für die Personalisierte Medizin. Die Verwendung genomischer Daten in der klinischen Praxis stellt eine Herausforderung für die Speicher- und Rechnerkapazität dar. Das potenzielle Volumen von Ganz-Genome-Sequenzen, im Gegensatz zu einer kleineren Anzahl von Genotypen, wird die Kapazität der derzeitigen Systeme in den Krankenhäusern durch den Anstieg der Patientenfälle z.B. im Molekularen Tumorboard schnell übersteigen. Hier bedarf es nicht nur flexible Speicherkapazitäten, sondern auch schnelle Hochleistungsrechner bis hin zur Integration von Grafikprozessoren. Mittel- bis langfristig wird sicherlich auch die Cloud-Strategie ein Ansatzweg sein.

 

Fazit

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Integration strukturierter genomischer Informationen in die Informationssysteme des Gesundheitswesens zur Unterstützung der Patientenversorgung nach wie vor begrenzt ist. Laufende Arbeiten auf nationaler und internationaler Ebene zielen auf die oben beschriebenen Hindernisse ab. Die HL7-FHIR-Spezifikation wird von einer Vielzahl an Akteuren, darunter auch nationale und internationale Initiativen, aktiv und in Zusammenarbeit entwickelt. Im Rahmen einer internationalen Initiative zur Standardisierung für die Genomik entwickelt die Global Alliance for Genomic Health (GA4GH) eine Reihe von Tools und Spezifikationen, die den Austausch genomischer Daten ermöglichen (Dolman et al., 2018). Neben den technischen Anstrengungen sollten sich künftige Bemühungen aber auch auf den Endnutzer konzentrieren, um die Wirksamkeit dieser Modalitäten für die Ausbildung und Unterstützung von Klinikern und Patient:innen und letztlich die Auswirkungen der Genommedizin zu verbessern.

 

Literatur:

 

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Hoefflin, R., Lazarou, A., Hess, M. E., Reiser, M., Wehrle, J., Metzger, P., Frey, A. V., Becker, H., Aumann, K., Berner, K., Boeker, M., Buettner, N., Dierks, C., Duque-Afonso, J., Eisenblaetter, M., Erbes, T., Fritsch, R., Ge, I. X., Geißler, A. L., … Bubnoff, N. von. (2021). Transitioning the molecular tumor board from proof of concept to clinical routine: A german single-center analysis. Cancers, 13(5), 1-18. https://doi.org/10.3390/cancers13051151

Hoffmeister-Wittmann, P., Mock, A., Nichetti, F., Korell, F., Heilig, C. E., Scherr, A. L., Günther, M., Albrecht, T., Kelmendi, E., Xu, K., Nader, L., Kessler, A., Schmitt, N., Fritzsche, S., Weiler, S., Sobol, B., Stenzinger, A., Boeck, S., Westphalen, C. B., Schulze-Osthoff, K., … Köhler, B. C. (2022). Bcl-xL as prognostic marker and potential therapeutic target in cholangiocarcinoma. Liver international: official journal of the International Association for the Study of the Liver, 42(12), 2855-2870. https://doi.org/10.1111/liv.15392

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Jahn, A., Rump, A., Widmann, T. J., Heining, C., Horak, P., Hutter, B., Paramasivam, N., Uhrig, S., Gieldon, L., Drukewitz, S., Kübler, A., Bermudez, M., Hackmann, K., Porrmann, J., Wagner, J., Arlt, M., Franke, M., Fischer, J., Kowalzyk, Z., William, D., … Klink, B. (2022). Comprehensive cancer predisposition testing within the prospective MASTER trial identifies hereditary cancer patients and supports treatment decisions for rare cancers. Annals of oncology : official journal of the European Society for Medical Oncology, 33(11), 1186-1199. https://doi.org/10.1016/j.annonc.2022.07.008

Lier, A., Penzel, R., Heining, C., Horak, P., Fröhlich, M., Uhrig, S., Budczies, J., Kirchner, M., Volckmar, A.-L., Hutter, B., Kreutzfeldt, S., Endris, V., Richter, D., Wolf, S., Pfütze, K., Neumann, O., Buchhalter, I., Morais de Oliveira, C. M., Singer, S., … Stenzinger, A. (2018). Validating Comprehensive Next-Generation Sequencing Results for Precision Oncology: The NCT/DKTK Molecularly Aided Stratification for Tumor Eradication Research Experience. JCO Precision Oncology, 2(2), 1-13. https://doi.org/10.1200/PO.18.00171

Prokosch, H. U., Acker, T., Bernarding, J., Binder, H., Boeker, M., Boerries, M., Daumke, P., Ganslandt, T., Hesser, J., Höning, G., Neumaier, M., Marquardt, K., Renz, H., Rothkötter, H. J., Schade-Brittinger, C., Schmücker, P., Schüttler, J., Sedlmayr, M., Serve, H., … Storf, H. (2018). MIRACUM: Medical Informatics in Research and Care in University Medicine. Methods of Information in Medicine, 57(S 01), e82-e91. https://doi.org/10.3414/ME17-02-0025


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