Das Konzept eines Gesundheitskiosks - als niedrigschwellige Gesundheitsberatung ohne die Notwendigkeit einer vorherigen Terminvereinbarung und zur Entlastung von Arztpraxen - geht auf das finnische Terveyskioski-Modell zurück. In Deutschland wurde es nach mehrjähriger Vorbereitung durch die OptiMedis AG erstmals 2017 in Hamburg Billstedt/Horn als Innovationsfondsprojekt (INVEST) unter der Konsortialführung der Gesundheit für Billstedt/Horn UG eingeführt (G-BA, o. J.). Der Begriff „Kiosk“ wurde unter anderem deshalb gewählt, weil dieser in den wichtigsten Kulturkreisen der Bewohner der beiden Hamburger Stadtteile bekannt ist. Ursprünglich stammt er aus dem osmanisch-mittelpersischen Sprachraum und ist dann über den französischen Begriff für Gartenhaus nach Deutschland gekommen, wird aber auch im slawischen Sprachraum genutzt.
Autoren: Dr. Helmut Hildebrandt, OptiMedis AG Hamburg; Martin Knüttel, adesso SE Hamburg
Schließen der Versorgungslücken, Verbessern der Gesundheitschancen, Stärkung der Gesundheitskompetenz
Im Folgenden wird eine erste Definition für Gesundheitskioske formuliert: Gesundheitskioske sind ein niedrigschwelliger Beratungs- und Vernetzungsbaustein im Gesundheitswesen und werden primär durch Pflegefachkräfte und Fachkräfte aus dem Bereich der sozialen Arbeit besetzt. Durch sie werden insbesondere vulnerable Bürger:innen unterstützt, indem ihnen der niedrigschwellige Kontakt zum Gesundheitssystem ermöglicht wird und sie in ihrer Gesundheitskompetenz gestärkt werden. Ausgerichtet auf die unterschiedlichen Bedarfe in ländlichen oder städtischen Regionen, sind unterschiedliche Ausgestaltungsformen und die Anschlussfähigkeit an bestehende Strukturen notwendig. Mittel- und langfristige Ziele stellen dabei auch die Entlastung z. B. der Ärzteschaft, eine stärkere Vernetzung von Gesundheits- und Sozialwesen und die Verbesserung von Versorgungsprozessen dar.
Die Unterstützungsmaßnahmen reichen dabei von der Vermittlung und Koordinierung von medizinischen und sozialen Leistungen bis zu der allgemeinen Beratung und Bedarfsermittlung im konkreten Einzelfall. Außerdem hat die Trägergesellschaft des Gesundheitskiosks ein Netzwerk mit den regionalen Stakeholdern zu organisieren und so den Austausch und die Zusammenarbeit von sozialen und medizinischen Leistungserbringern zu fördern. Um diese Aufgaben bewältigen zu können, setzt man beim Kioskpersonal auf Mitarbeiter aus den Gesundheits- und Sozialberufen. Ebenfalls kann ein Schulungskonzept für Gesundheitslotsen in diesem Setting eingesetzt werden.
Unterschiedliche Schwerpunkte für Stadt und Land
Allerdings gibt es kein einheitliches Leistungsportfolio für alle Kioske. Die Schwerpunkte in der Ausgestaltung können immer wieder unterschiedlich gesetzt und an den jeweiligen Bedarf der Region angepasst werden. Unterschiede bei den Herausforderungen scheint es dabei vor allem zwischen den ländlichen und städtischen Regionen zu geben. Sind es auf dem Land häufig Probleme der fehlenden medizinischen Vor-Ort-Versorgung, gepaart mit eingeschränkter Mobilität durch zum Teil sehr begrenzte öffentliche Verkehrsmittel, so stehen in sozial benachteiligten Stadtteilen häufig die Themen fehlende Gesundheitskompetenz und Sprachbarrieren neben der geringen Versorgung im Fokus. Diese Trennung ist aber in keinem Fall abschließend und hängt wie beschrieben stark von den jeweiligen Erfordernissen vor Ort ab.
Dass der Name „Gesundheitskiosk“ die dahinterstehenden Ziele und das Aufgabenspektrum nicht für jeden sofort verständlich vermittelt, wurde bereits in der Vergangenheit angemerkt (Mohrmann, 2022). Die meisten Menschen assoziieren mit dem Begriff Kiosk wohl keine Beratungsleistungen. Umso wichtiger erscheint eine klarere Definition, wie oben angegeben, um möglichen Fehleinschätzungen entgegenzuwirken. Mit der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers zu den Gesundheitskiosken auf der Homepage des BMG kann bereits eine grobe Einordnung der im Koalitionsvertrag angekündigten niedrigschwelligen Beratungsangebote für benachteiligte Kommunen und Stadtteilen erfolgen (BMG, 2022). Es ist davon auszugehen, dass die Veröffentlichung des Referentenentwurfs (lag zum Abgabezeitpunkt der Ausarbeitung noch nicht vor) weiter zur Begriffsklärung beiträgt.
Kritiker sehen eine Gefahr, dass durch Kioske Parallelstrukturen geschaffen werden könnten. Dabei besteht vor allem die Angst vor einer weiteren Säule im Gesundheitssystem statt der gewünschten Überwindung der Sektorengrenzen (ÄrzteZeitung, 2022; PKV.de, o. J.). Andere Kritiker fordern, dass es doch viel besser wäre, Ihnen die dafür vorgesehenen Mittel zu geben, statt damit jetzt Community Health Nurses und Gesundheitsförderungsberatung zu finanzieren (DAZ online, 2022; ÄrzteZeitung, 2023).
Telemedizin als Ergänzung zur Beratung im Kiosk
Die oben beschriebene Vielfalt in der aktuellen „Kiosklandschaft“ spiegelt sich dann auch im Digitalisierungsgrad und Einsatz von E-Health-Anwendungen wieder. Dennoch lassen sich gewisse Trends zu IT-basierten Leistungen erkennen. So ist bereits das INVEST-Projekt in Billstedt/Horn mit dem Ziel angetreten, neue digitale Anwendungen für die Kommunikation zu optimieren. Daneben liegt gerade im Bereich der Telemedizin eine Möglichkeit für die Kioske, nicht nur die Koordination und Vernetzung von Einwohnern und Leistungserbringern vor Ort voranzubringen, sondern auch Fachkräfte aus den Gesundheits- und Sozialberufen von außerhalb einzubinden. Gerade für die in der Mobilität eingeschränkten Versicherten kann diese Überbrückung der räumlichen Distanz, beispielsweise bei Routineuntersuchungen per Videosprechstunde, ein großer Vorteil sein. Ebenfalls lassen sich über diesen Weg das Fachpersonal vor Ort (Telekonsultation) oder auch zusätzliche Expertise durch weitere Fachärzte einbinden (Telekonsil). Ein Mehrwert innerhalb dieser Settings kann zudem der Einsatz von Medizingeräten mit digitaler Übertragungsmöglichkeit bieten. So ist je nach Device die Messung und Übertragung unterschiedlicher Vitalparameter wie etwa Blutdruck, Blutsauerstoff, EKG und Körpertemperatur möglich. Außerdem können Lunge und Herz abgehört werden sowie die Untersuchung der Ohren mittels digitalen Otoskops erfolgen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.[1]
Erleichterung der Behandlung durch erweiterte Patienteninformationen
Besonders hilfreich bei regionalen Versorgungsengpässen kann zudem auch die asynchrone Nutzung solcher Devices sein, wie es auch aus dem Bereich des Monitorings bekannt ist. Dabei erfolgt die Übertragung bzw. die Auswertung der Daten erst dann, wenn der Leistungserbringer ein freies Zeitfenster hat (Heinen-Kammerer et al., o. J.). Der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V. empfiehlt zudem auch, die Beratung zu digitalen Versorgungsangeboten im Gesundheitskiosk in Betracht zu ziehen. Dazu werden sowohl digitale Angebote aus der Prävention sowie auch die DiGAs (digitale Gesundheitsanwendungen) und DiPAs (digitale Pflegeanwendungen) gezählt (Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V., 2022).
Mit der Betreuung im Gesundheitskiosk entstehen dadurch auch erweiterte Patienteninformationen. Über Schnittstellen können diese in die Behandlung einfließen und so eine bessere Informationsgrundlage für den Behandler schaffen. Das Monitoring und die Begleitung der Patienten bei der Nutzung von Medical Devices im Umfeld von Homecare kann eine sinnvolle Ergänzung in der Versorgungslandschaft darstellen. Damit stellt sich zugleich die Frage, wie die gewonnenen Daten strukturiert verwaltet und in eine elektronische Patientenakte einfließen können. Als Ergänzung der Versorgungslandschaft mit einem Fokus auf der digitalen Begleitung von Patienten kann der Gesundheitskiosk so zu einer zentralen Brücke bei der Überwindung von Sektorengrenzen werden. Um absehen zu können, welche Devices oder digitalen Angebote den größten Mehrwert in den unterschiedlichen Regionen bieten, fehlt es aktuell noch an einer ausreichenden Anzahl der Gesundheitskioske.
Mit der vorgesehenen gesetzgeberischen Initiative und der verpflichtenden ergänzenden Finanzierung durch die Krankenkassenverbände sowie die privaten Krankenversicherungen - soweit die jeweilige kommunale Gebietskörperschaft selbst bereit ist, 20% der Kosten zu tragen - ist eine Vielzahl von Gesundheitskiosk-Gründungen zu erwarten. Mittelfristig ist damit zu rechnen, dass die Träger von Gesundheitskiosken seitens der Politik in eine Kostenmitverantwortung eingebunden werden (vgl. Hildebrandt & Klose, 2022).
Empfehlung der Übernahme des Kioskmodells in die Regelversorgung
Das mit der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Projekts beauftragte Hamburg Center for Health Economics (HCHE) veröffentlichte 2021 eine Pressemitteilung unter dem Titel „Gesundheitskiosk verbessert Versorgung in sozial benachteiligten Stadtteilen Billstedt und Horn“. In dieser wird Frau Prof. Dr. Eva Wild als Projektleiterin INVEST am HCHE wie folgt zitiert: „Auf Basis der bisherigen Evaluationsergebnisse empfehlen wir, INVEST in die Regelversorgung zu überführen“ (Bükow, o. J.).[2]
In den Folgejahren ist die „Kiosklandschaft“ weiter gewachsen, so eröffneten im Jahr 2022 beispielsweise in den Städten Essen (Gesundheit für Essen gGmbH, o. J.) und Aachen (Gesundheitskiosk der StädteRegion Aachen, o. J.) weitere Gesundheitskioske. Außerdem eröffnete auch der erste Gesundheitskiosk in Thüringen, in einer ländlichen Umgebung im Unstrut-Hainich-Kreis (Stiftung Landleben, o. J.). Im selbem Jahr wurde vom Innovationsausschuss auch eine Überführung von Ansätzen aus dem INVEST-Projekt in die Regelversorgung empfohlen (Gemeinsamer Bundesausschuss, o. J.). Aktuell wird unter Beteiligung der Autoren ein Kiosk in Bochum-Wattenscheid vorbereitet. Dabei erhält auch das Thema Digitalisierung einen immer größeren Stellenwert in den Kiosken.
Literatur
ÄrzteZeitung (2022, September 1). Kassenärzte kritisieren Lauterbachs Konzept der Gesundheitskioske. AerzteZeitung.de. Abgerufen am 27. März 2023 von https://www.aerztezeitung.de/Politik/K ... Kiosk-Konzept-432012.html.
ÄrzteZeitung (2023, Januar 31). Hessens Ärztekammer will keine Gesundheitskioske. AerzteZeitung.de. Abgerufen am 27. März 2023 https://www.aerztezeitung.de/Nachricht ... ndheitskioske-436261.html.
BMG (2022, August 31). Regierung plant Gesundheitskioske deutschlandweit. Presse. Abgerufen am 27. März 2023 von https://www.bundesgesundheitsministeri ... r-gesetzesinitiative.html.
Bükow, A. (o. J.). Gesundheitskiosk verbessert Versorgung in sozial benachteiligten Stadtteilen Billstedt und Horn. Abgerufen 20. Februar 2023 von https://www.hche.uni-hamburg.de/presse/pressemitteilungen.html.
DAZ online (2022, September 29). Der Minister und die 1.000 Gesundheitskioske. DAZ.online. Abgerufen am 27. März 2023 von https://www.deutsche-apotheker-zeitung ... e-1-000-gesundheitskioske.
G-BA. (o. J.). INVEST Billstedt/Horn - Hamburg Billstedt/Horn als Prototyp für eine Integrierte gesundheitliche Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen - G-BA Innovationsfonds. Abgerufen am 20. Februar 2023 von https://innovationsfonds.g-ba.de/proje ... sstaedtischen-regionen.73.
Gemeinsamer Bundesausschuss (o. J.). Impulse für die Regelversorgung aus weiteren drei Projekten des Innovationsausschusses. Abgerufen am 16. März 2022 von https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1023/.
Gesundheit für Essen gGmbH (o. J.). Team Gesundeheitskiosk Essen. Abgerufen am 20. Februar 2023 von https://www.gesundheitskiosk.ruhr/.
Gesundheitskiosk der StädteRegion Aachen (o. J.). StädteRegion Aachen. Abgerufen am 20. Februar 2023 von https://www.staedteregion-aachen.de/de ... amt-a-53/gesundheitskiosk.
Heinen-Kammerer, T., Wiosna, W., Nelles, S., Rychlik, R. (2006, März 28). Monitoring von Herzfunktionen mit Telemetrie. GMS Health Technol Assess 2006;2: Doc05. Abgerufen am 05. Juli 2023 von https://www.egms.de/static/en/journals/hta/2006-2/hta000018.shtml.
Hildebrandt, H., Klose, A. (2022, Oktober 17). Vorschlag für eine neue Anreizstruktur für Gesundheitskioske. Observer Gesundheit. Abgerufen am 27. März 2023 von https://observer-gesundheit.de/vorschl ... r-fuer-gesundheitskioske/.
Mohrmann, M. (2022, September 15). Von Gesundheitskiosken überzeugt. Observer Gesundheit. Abgerufen am 27. März 2023 von https://observer-gesundheit.de/von-gesundheitskiosken-ueberzeugt/.
PKV.de (o. J.). Gesundheitskiosk: Warum Versicherte nicht für ein unausgereiftes Konzept zahlen sollten. PKV.de. Abgerufen am 27. März 2023 von https://www.pkv.de/positionen/gesundheitskiosk/.
Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V. (2022, Dezember 16). Gesundheitskioske: Lokale Angebote profitieren von digitaler Unterstützung. Abgerufen am 20. Februar 2023 von https://e-health-com.de/details-news/g ... digitaler-unterstuetzung/.
Stiftung Landleben (o. J.). Stiftung Landleben. Stiftung Landleben. Abgerufen am 20. Februar 2023 von http://www.stiftung-landleben.de/index.php/home/aktuelles.
[1] Beispiele finden Sie unter u. a. bei medkitdoc.de oder www.tytocare.com.
[2] Unter dem folgenden Link finden Sie den vollständigen Ergebnis- und Evaluationsbericht nach Abschluss der Projektphase unter INVEST Billstedt/Horn: https://innovationsfonds.g-ba.de/beschluesse/.
Autoren: Helmut Hildebrandt, Martin Knüttel, beide Hamburg
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