Patientenakten als Kernstrategie der Informationsverarbeitung im Gesundheitswesen

Akten

Veröffentlicht 04.07.2023 09:50, Kim Wehrs

Zusammenfassung

Sachgerechte Aufzeichnungen über medizinische Behandlungen sind seit 2013 auch gemäß Bürgerlichem Gesetzbuch verpflichtend (BGB 2013, §630f). Sie dienen nicht nur dem primären Verwendungszweck als Grundlage für Rückschau, Bewertung und Behandlungsentscheidungen, sondern auch dem sekundären wie Abrechnung, Qualitätsmanagement etc. und dem tertiären wie Forschung, Gesundheitsberichtserstattung etc. Dazu müssen sie ausreichend standardisiert, also strukturiert und formalisiert werden. Eine Elektronische Patientenakte ist damit Kernelement jeder Versorgung. Eine reine Verwaltung von klinischen Dokumenten in Analogie zu Papierakten ist zur Ausschöpfung des Potentials nicht zielführend. Daher sollten Patientenakten granular die klinische Phänomenologie des Patienten[1] des inklusive der semantischen Beziehungen zwischen diesen Phänomenen ausreichend abbilden können, also eine phänomeno-ontologische Akte sein. Aktuelle internationale und nationale Entwicklungen und Standards tendieren inzwischen zu mehr granularen Patientenakten, die so besser Auskunft über Status und Vorgeschichte des Patienten geben, aber auch Basis für viele Verwendungszwecke sein können.

Patientenakten - Bedeutung und Ausgestaltung

Bedeutung und Nutzen der Dokumentation von Patientenbehandlungen hat schon Hippokrates hervorgehoben. Sie ist in Deutschland eine wichtige Nebenpflicht des Arztes. Seit langem enthält die ärztliche Berufsordnung bereits den Passus, dass „über die getroffenen Feststellungen und Maßnahmen die erforderlichen Aufzeichnungen zu machen sind“ (BÄK 2021, S. A4). Eine kurze Übersicht zu den Dokumentationspflichten gibt die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO 2020).

Im BGB wird explizit der Begriff Patientenakte genannt und Präzisierungen hinsichtlich der notwendigen und gegenüber dem Patienten geschuldeten Inhalte vorgenommen. Auch die Unterscheidung in papierbasiert oder elektronisch wird erwähnt. Es ist deutlich, dass eine „Patientenakte“ ein wesentliches Kernelement jeder Versorgung ist. In der Regel wird bei einer digitalen Implementierung von der Elektronischen Patientenakte (Abk. EPA oder ePA) gesprochen, wenngleich es sich genau genommen um eine digitale Patientenakte handelt.

Der Terminus Technicus „Elektronische Patientenakte“ ist aber im Grunde ein Homonym für viele verschiedene Konzepte und Implementierungen, also ein Gattungsbegriff. Mit Blick auf diese homonyme Verwendung für verschiedenste Lösungen müssen konkrete Implementierungen für eine Einordnung bzw. Typisierung hinsichtlich verschiedener Aspekte betrachtet werden, wozu ein Einteilungsraster angegeben werden kann, dass die Aspekte Gegenstandsbereich, Verwendungszweck, Implementierungsumfang, Krankheitsbezug und Moderation berücksichtigt (Haas 2006, S. 436 ff.).

Auch ist mit dem Begriff oft nur der eigentliche Inhalt gemeint (also die Daten des Patienten, die seine EPA ausmachen), aber eben auch manchmal die zugehörige Software, mittels der die EPA verwaltet wird, also das EPA-System mit seinen Funktionalitäten insgesamt.

Beim Gegenstandbereich muss unterschieden werden, ob es sich um eine Akte innerhalb einer Einrichtung oder um eine einrichtungsübergreifende Akte handelt. Zur Differenzierung wurden die Abkürzungen iEPA (institutionelle EPA) und eEPA (einrichtungsübergreifende EPA) vorgeschlagen [Haas 2006, S. 195]. Während eine iEPA - wie auch immer bezüglich Aufbau sowie Strukturierung und Formalisierung umgesetzt - wichtiges Kernelement aller Primärsysteme[2] ist, werden eEPAen für Zwecke der einrichtungsübergreifenden ggf. integrierten Versorgung eingesetzt. Auch wenn es z.B. in Spanien Ansätze bzw. Lösungen gibt, nach denen die einzelne Einrichtung nur noch gemeinsam in eine eEPA dokumentiert (regionale eEPA) und gar keine iEPA in ihrer Einrichtung mehr vorhält, wird dies auf lange Sicht aufgrund der Rechtslage in Deutschland nicht umsetzbar sein.

Für eEPA-Systeme ist zur Vermeidung von Doppelerfassungen und für eine effektive Befüllung eine semantische Interoperabilität mit den verschiedenen iEPA-Primärsystemen und den dort vorgehaltenen iEPAen unabdingbar, also die Aktensystem-zu-Aktensystem-Interoperabilität allgemein.

Die Standardisierung im Sinne der Strukturierung und Formalisierung ist als wichtiger Teil des Implementierungsumfanges einer EPA ein weiterer wichtiger Aspekt (Haas 2005, S. 139 ff.), wobei hier die beiden Pole die nichtstandardisierte Akte als lose Sammlung von beliebigen Dokumenten und Scans und die vollständig standardisierte Akte, in der alle Angaben strukturiert und formalisiert vorgehalten werden, sind. Die Wahrheit für eine sachgerechte digitale Patientendokumentation dürfte hier in einer optimalen Mischung, bezogen auf den intendierten Verwendungszweck, sein.

Diesen Aspekt hat Waegemann bereits 1999 in seinen 5 Stufen zum Electronic Health Record herausgearbeitet (Waegemann 1999, S. 116).

Für die Zukunft muss es das Ziel sein, in einer EPA bzw. einem EPA-System - egal ob es sich um eine iEPA oder eEPA handelt - nicht nur Behandlungsdokumente und Diagnosen zu verwalten, sondern auch und vor allem die gesamte klinische Phänomenologie des Patienten. Daran arbeiten derzeit national sowohl die Medizininformatik-Initiative im Rahmen des dort entwickelten Kerndatensatzes als auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) mittels der Spezifikation von sogenannten Medizinischen Basis-Informationsobjekten (MIOs). Im Ansatz beinhalten Arztpraxisinformationssysteme einen solchen Ansatz schon seit Anbeginn ihrer Verfügbarkeit, während Krankenhausinformationssysteme schon immer sehr dokumentenzentriert angelegt sind. Eine EPA muss auch für eine Effektivierung der Versorgungssteuerung und -transparenz eine Prozessorientierung beinhalten, die sich jedoch automatisch aus der Verwaltung der klinischen Maßnahmen ergibt.

Bezüglich der Strukturierung und Formalisierung müssen mit Blick auf das voran Gesagte verschiedene Betrachtungsebenen auseinandergehalten werden: Zum einen die generelle Struktur / der generelle Aufbau der digitalen Akte und zum anderen die Standardisierung enthaltener Informationsobjekttypen. Hier sind die klinischen Phänomene als Objekttypen besonders hervorzuheben, bilden sie doch exakt das Behandlungs- und Krankheitsgeschehen inhaltlich und zeitlich ab, daneben dann natürlich auch die die klassischen Dokumente bzw. Dokumentationsaspekte repräsentierenden Objekttypen, die in beliebig tief geschachtelten Spezialisierungsbäumen angegeben werden können. Insofern kann der generelle Aufbau einer EPA aufgrund der Gleichartigkeit in allen Bereichen der Medizin auch gleichartig und zum Teil generisch gehalten werden. Die weitere Ausdifferenzierung von klassischen Dokumenten bzw. fachspezifischen Dokumentationen muss dann zielorientiert spezifisch ergänzend erfolgen. Dem folgt auch das Paradigma von FHIR, denn hier werden - zum Teil jedoch auf generischer Ebene - entsprechende Objekttypen in Struktur und Semantik als Bausteine für medizinische Lösungen spezifiziert. Wesentliche klinische Phänomene bzw. entsprechende Objekttypen, die inklusive der spezifischen charakterisierenden Attribute strukturiert und formalisiert abzubilden sind, sind

  • Symptom,
  • Maßnahme (hierunter fallen auch genau genommen die Medikationen und alle Laborwerte),
  • Diagnose,
  • Behandlungsziel,
  • Prognose und
  • Problem.

Eine besondere konstruktive Eigenschaft hat - zieht man einmal den problemorientierten Ansatz von Larry Weed (Weed 1978) mit in die Betrachtung ein - der Objekttyp „Problem“, denn Symptome und Diagnosen können einerseits Probleme darstellen - also ein Symptom bzw. eine Diagnose kann eine „Rolle“ als Problem spielen. Andererseits können aber auch eigenständige Probleme formuliert werden. Ähnlich verhält es sich bei der Indikation (siehe auch Abbildung 1).

Digitale Patientenakten müssen zukünftig bei jeder Lösungsentwicklung - ob für Primärsysteme oder einrichtungsübergreifende Versorgungskonzepte also als iEPA oder eEPA - als strategisches Kernelement angesehen werden, mittels dem sowohl das stattgefundene Geschehen dokumentiert und transparent gemacht wird, aber auch die zukünftige Versorgung eines Patienten geplant und gesteuert werden kann. Dabei reicht es nicht aus, die entsprechenden Phänomene in ihrem Zeitverlauf und ggf. in ihrer Veränderung gut zu dokumentieren, sondern es sollten auch die semantischen Beziehungen zwischen diesen Phänomenen abgebildet - sprich dokumentiert - werden können. Dadurch wird dann eine EPA nicht nur eine phänomenologische, sondern auch eine ontologische Akte[3], also eine phänomeno-ontologische Akte. Da auch die SNOMED einen ontologischen Charakter hat, kann sie gut als semantische Basis für phänomeno-ontologische Akten verwendet werden.

Während also die Domänenontologie (siehe Abbildung 1) die strukturelle Grundstruktur für eine digital und Semantik basierte Patientenakte darstellt, die in beliebigen Datenhaltungssystemen abgebildet werden kann, bilden dann die entsprechenden Instanziierungen für einen Patienten in Summe die phänomeno-ontologische Patientenakte ab (in Abbildung 2 am Beispiel der ophEPA). Hierauf können dann beliebige problembezogene, krankheitsbezogene oder fragestellungsbezogene Sichten bzw. Auszüge generiert werden.

Auch ist eine solche Akte ideal zur Verwendung für die sekundären Zwecke wie Abrechnung, Forschung, Versorgungsforschung und KI-Zusätze, da sie eben nicht nur angefallene Dokumente und lose Informationen beinhaltet, sondern eine gesamte Verlaufs- und Entscheidungsdokumentation der Patientenbehandlung repräsentiert. Dies kann dann sowohl für den „engen“ Gegenstandsbereich einer einrichtungsgeführten Akte als auch für einrichtungsübergreifende Akten gelten, sodass die Summe solcher Akten auch gut geeignet ist, ein lernendes Gesundheitssystem zu implementieren.

Strategische Implikationen

Die Gesundheitssysteme in vielen Ländern stehen vor großen Herausforderungen. Ein wesentliches strategisches Infrastrukturelement für eine effektivere koordinierte und transparente Gesundheitsversorgung sind dabei die digitalen Patientenaktensysteme, die zum einen eine differenzierte Abbildung des Krankheits- und Behandlungsgeschehens ermöglichen müssen und auch Basis für die vielfältigen nachgeordneten Verwendungszwecke bis hin zum Aufbau und Betrieb eines lernendes Gesundheitssystems sind, zum anderen natürlich auch weiter die klinischen Dokumente enthalten.

Dafür muss sich der Blick weg von dokumentenzentrierten Ansätzen orientieren, denn alleine gut strukturierte und formalisierte Dokumente im Sinne der Aggregation von modulareren Informationsobjekttypen, so wie es die KBV mit ihren MIOs plant und umsetzt, reichen nicht aus. Der Blick muss hin zu einer phänomenologischen Grundstruktur, die die Domänenontologie abbildet und deren konkrete Instanziierungen der Objekttypen für einen Patienten dann die phänomeno-ontologische Akte ausmacht, die fragestellungs- und situationsspezifisch durch den behandelnden Arzt schnell und effektiv gesichtet und ergänzt werden kann. Sie wird so auch zum „Dialogpartner“ des Arztes (Bickmann 2019).

Literaturverzeichnis

BÄK (2021) (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte - MBO-Ä 1997 -*) in der Fassung des Beschlusses des 124. Deutschen Ärztetages vom 5. Mai 2021 in Berlin. https://www.bundesaerztekammer.de/file ... K_MBO-AE_Online_final.pdf. Zugegriffen am 16.01.2023.

BGB (2013) Bürgerliches Gesetzbuch, § 630f https://dejure.org/gesetze/BGB/630f.html.

Bickmann, J. (2018): Diskussionsbeitrag zu einer granularen Patientenakte im Rahmen der Sitzung des „Ärztlichen Beirats Digitalisierung NRW“ am 28. November 2018.

Haas, P. (2005): Medizinische Informationssysteme und Elektronische Krankenakten. Springer.

Haas, P. (2006): Gesundheitstelematik - Grundlagen, Anwendungen, Potenziale. Springer.

KVNO (2020): Die ärztliche Dokumentation. https://www.kvno.de/praxis/recht-vertr ... ion/dokumentationspflicht. Zugegriffen am 16.01.2023.

Waegemann, C. P. (1999): Current status of EPR developments in the US. Toward an Electronic Health Record ‘99. Hrsg. C. Peter Waegemann. Newton MA: Medical Records Institute, 116–118.

Weed, L.L. (1978): Medical Record That Guide And Teach. N Engl J Med 1968; 278: 593-600.



[1] Die Phänomenologie ist eine philosophische Strömung, deren Vertreter den Ursprung der Erkenntnisgewinnung in unmittelbar gegebenen Erscheinungen, den Phänomenen, sehen (Wikipedia).

[2] Primärsysteme stehen hier für alle institutionellen Systeme wie Krankenhausinformationssysteme, Arztpraxisinformationssysteme, Pflegeinformationssysteme für ambulante Pflegedienste etc.

[3] Ontologien im Datenmanagement sind meist sprachlich gefasste und formal geordnete Darstellungen einer Menge von Begriffen und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen in einem bestimmten Gegenstandsbereich. Sie werden dazu genutzt, „Wissen“ in digitalisierter und formaler Form zwischen Prozessen (oft Anwendungsprogrammen) und Diensten auszutauschen. (Wikipedia)


Autor: Peter Haas, Fachhochschule Dortmund


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