Dr. Tobias von Bargen1, Dr. Pierre-Michael Meier2, Prof. Dr.-Ing. Martin Staemmler3
1Senior Manager, Unity AG, Braunschweig
2Hospitalgemeinschaft Hosp.Do.IT
3Medizininformatik, Fakultät für Elektrotechnik und Informatik (ETI), Hochschule Stralsund
1. Problemstellung / Herausforderungen
Die intersektorale Vernetzung war und ist bis heute eine anspruchsvolle Aufgabe, um eine durchgängige Bereitstellung medizinischer Informationen für die Behandlung von Patienten zu gewährleisten. Lösungsansätze wie die Telematikinfrastruktur (TI) mit ihren Diensten wie TI-ePA (gematik o.J.a) und KIM (gematik o.J.b), die elektronische Fallakte (eFA) (Verein eFA) oder proprietäre Anwendungen einzelner Anbieter stellen sich dieser Aufgabe, aber haben bisher noch keine ausreichende Verbreitung gefunden und vernachlässigen mit ihrem Fokus auf den Datenaustausch die Anforderungen der praktischen Nutzung und die Integration mit den Bestandssystemen von Praxen und Krankenhäusern. Aus Sicht der Unterstützung von Behandlungsprozessen bedarf es zudem der regionalen, vertrauensvollen Kooperation zwischen den unterschiedlichen Leistungserbringern.
2. Zielsetzungen
Die Region Ostwestfalen-Lippe (OWL) hat die Problemstellung einer intersektoralen Vernetzung aufgegriffen und im Jahr 2019 erfolgreich einen Projektantrag gestellt. Ziel des Projektantrags war die Konzeption und der Aufbau der Digitalen Gesundheitsplattform Ostwestfalen-Lippe (DGP OWL) in einem Verbund von fünf Krankenhäusern und einem Praxisnetz, das zu diesem Zeitpunkt ca. 150 Praxen umfasste. Dazu sollte die Plattform die gleichberechtigte Bereitstellung und den Austausch von Patientendaten für alle Beteiligten (Krankenhäuser, Praxen, Nachbehandler und Patienten) erlauben. Neben der Unterstützung von ausgewählten Anwendungsfällen soll die DGP OWL auch als Plattform für die Umsetzung weiterer, innovativer Prozesse für eine sektorübergreifende Behandlung dienen. Zur Gewährleistung der Nachhaltigkeit setzte der Antrag auf die Nutzung internationaler Standards, zum Zeitpunkt der Antragstellung vornehmlich auf IHE-Profile. Für die sichere Umsetzung der unterschiedlichen Szenarien muss die Plattform zudem ein geeignetes Rollen- und Rechtekonzept beinhalten, das den Schutz personenbezogener Daten und die Rechte der Patienten gemäß DSGVO sicherstellt.
3. Konzept und Kurzbeschreibung der Lösung
Die Analyse der Ausgangslage zeigte, dass die beteiligten Kliniken und Praxen deutlich unterschiedliche Voraussetzungen mitbrachten. So verfügten bereits zwei der Kliniken über eine eigenständige Plattform zum Datenaustausch. Das Praxisnetz Paderborn als ein von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe anerkanntes Praxisnetz der Stufe 1 (Praxisnetz o.J.) mit ca. 150 Haus- und Facharztpraxen stellte eine hervorragende Grundlage für die Kooperation zwischen den Praxen dar, allerdings mit begrenzten Möglichkeiten zum Datenaustausch mit den Kliniken.
Ausgehend von der Zielsetzung eines gleichberechtigten Datenaustausches und der Unterstützung von Behandlungsprozessen, wurden unterschiedliche Architekturen für die DGP OWL diskutiert. Die erarbeitete Systemarchitektur (Abb. 1) zeigt eine zentrale IHE-Infrastruktur, an die alle Kliniken über eine eigene IHE konforme Plattform angebunden werden. Der Aufbau von IHE-Plattformen in drei der fünf Kliniken gewährleistet den geforderten gleichberechtigten Zugang zur DGP OWL, sowohl datentechnisch als auch funktional. Die Etablierung von je einer IHE XDS Affinity Domain (AD) pro Klinik bietet gegenüber einer übergreifenden, mandantenbasierten AD in der zentralen IHE-Infrastruktur den Vorteil, dass die Steuerung des Zugangs zu lokalen Daten der Klinik in der Hoheit der Klinik verbleibt.
Abbildung 1: Systemarchitektur der DGP OWL
Das Ärzteportal stellt den Zugang für die Praxen im Praxisnetz bereit. Über das Portal können die Ärzte nicht nur Daten in der Infrastruktur der DGP OWL bereitstellen, sondern auch nach Daten suchen und diese in die lokalen Arztpraxisinformationssysteme (APIS) übernehmen. Damit löst die DGP OWL Infrastruktur das Problem, dass das Praxisnetz über keine eigene, zugängliche Datenhaltung verfügt. Gleichermaßen dient die Infrastruktur dem Patientenportal zum Datenaustausch und zur Datenhaltung.
Aus Sicht der Kliniken erlaubt die Nutzung des Cross Community Access (XCA) nicht nur die Suche in der Infrastruktur der DGP OWL, sondern auch per Iteration in den jeweils anderen Kliniken, ggf. verbunden mit einer Übernahme von Daten in die eigene Plattform.
Alle vorab beschriebenen Zugänge stehen verständlicherweise unter dem Vorbehalt der Einwilligung durch den Patienten. Diese erfolgt auf mehreren Ebenen: Auf lokaler Ebene eines Leistungserbringers bzw. einer Einrichtung legen Patienten fest, welche Dokumente anderen Einrichtungen oder der zentralen Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden dürfen. Verbunden damit ist eine Schweigepflichtentbindung für eine rechtmäßige Bereitstellung der Daten. Auf der zentralen Ebene bestimmen Patienten, welchen Leistungserbringern bzw. Einrichtungen Zugriff auf ihre Daten in der zentralen Infrastruktur gewährt wird. Diese Festlegung dient zudem als Voraussetzung für die Anlage eines Patientenkontos im Patientenportal. Technisch erfolgt die Übernahme der Einwilligung entweder manuell im Portal oder über Kennzeichen in einer ADT-Nachricht. Die Abbildung und Durchsetzung der Vorgaben in der jeweiligen AD basieren auf dem IHE-Profil Basic Patient Privacy Consents (BPPC) (IHE o.J.a). Erteilte Einwilligungen werden in der jeweiligen AD dokumentiert.
Der zentrale Master Patient Index (MPI) dient der Registrierung der Patienten in der DGP OWL und der Prüfung bzw. dem Abgleich in Bezug auf eine mehrfache Registrierung durch verschiedene Leistungserbringer bzw. Einrichtungen. Zudem erhält er die XDS die Patienten-ID aus der jeweiligen AD (XAD-PID), um den Patienten in jeder AD eindeutig zu identifizieren.
4. Nutzen/Mehrwerte und Defizite der Lösung
Mit dem Aufbau der DGP OWL wurde für die Region ein „digitales Rückgrat“ geschaffen, dass es allen Beteiligten gemäß der vorliegenden Berechtigung durch den Patienten erlaubt, miteinander zu kommunizieren. Aufgrund der IHE-Plattformen in den Kliniken kann der Datenaustausch aus den klinischen Anwendungen durch entsprechende Trigger (z.B. Freigabe oder Bereitstellung eines Dokuments, Entlassung) automatisiert oder auch manuell erfolgen und erreicht damit eine gute Integrationstiefe. Auf Seiten der Praxen steht das Ärzteportal für diese Aufgabe zur Verfügung, dabei hängt die erreichbare Integration von dem jeweilig verwendeten APIS ab. Funktional stellt das Ärzteportal den Dreh- und Angelpunkt für die Zusammenarbeit auf ärztlicher Ebene in der DGP OWL dar.
Für den Patienten erlaubt das Patientenportal den Datenaustausch per Download und Upload sowie die Suche und Anzeige von Dokumenten und Bilddaten. Funktional unterstützt es die Selbstanamnese, die Übertragung von Vitaldaten, das Chroniker-Management und ein Terminmanagement. Damit ist es das „Gesicht“ der Leistungserbringer in der DGP OWL zum Patienten.
Die Kliniken, die im Rahmen der Projektumsetzung eine IHE-Plattform etabliert haben, profitieren zudem von einem standardkonformen Management interner Datenströme.
Die Einführung der Lösung bei den Leistungserbringern und Einrichtungen hat deutlich gemacht, dass neben allen technischen Aspekten der Umsetzung das Veränderungsmanagement zur Abbildung der neuen Möglichkeiten in der Zusammenarbeit zwischen den Akteuren nicht außer Acht gelassen werden darf und zwingend im Projektplan, gerade auch aus zeitlicher Sicht, berücksichtigt werden muss.
5. Notwendige und sinnvolle Weiterentwicklungen
Die DGP OWL beinhaltet derzeit noch keine Anbindung an die Dienste der TI. Diese wurden in der Konzeptionsphase intensiv diskutiert, aber aufgrund des unklaren Zeitrahmens zunächst zurückgestellt. Die zögerliche Nutzung der TI ePA durch Versicherte scheint diese Entscheidung zu bestätigen, sie ist jedoch regelmäßig im Sinne der Weiterentwicklung zu überprüfen. Die TI ePA könnte eine Rolle in der Datenhaltung in der zentralen Infrastruktur für das Ärzte- und Patientenportal übernehmen, sofern ihre Funktionalität mit dem Management von Bilddaten ergänzt würde. Die Nutzung der Dienste KIM und TIM in der DGP OWL könnte zwar eine schnelle Interaktion zwischen allen Beteiligten (KIM im professionellen Bereich, TIM absehbar zu Patienten (gematik o.J.c)) umsetzen, dennoch fehlt ihnen die in der DGP OWL realisierte Datenhaltung, um eine - zumindest partielle - Gesamtsicht auf Daten eines Patienten im Behandlungsfall zu erlauben. Deutlich interessanter für die DGP OWL sind die Planungen zu einem föderierten Identitätsmanagement im TI 2.0 Kontext (gematik o.J.d.) bzw. die aktuelle Überarbeitung der eIDAS-Verordnung (European Commission o.J.). Hier könnte die DGP OWL sich zu einem lokalen Identity Provider entwickeln und damit sowohl bisherige Strukturen vereinfachen als auch eine Nutzung in weiteren Kontexten gestalten.
6. Einordnung der Lösung in eine Gesamtstrategie der Gesundheitsversorgung Deutschlands
Das KHZG mit seinen Fördertatbeständen (FTB) und den abgeleiteten MUSS- und KANN-Kriterien der zugehörigen Richtlinie prägt derzeit die Entwicklung von IT-Anwendungen im Gesundheitswesen (BAS o.J.). Die DGP OWL weist deutliche Bezüge zum FTB 2 (Patientenportal) auf, allerdings realisiert sie diese Funktion in einer einrichtungsübergreifenden Form. Eine redundante Implementierung von Funktionen wurde durch Anpassung des Funktionsumfangs der DGP OWL nach Erlass des KHZG vermieden. Der mit der DGP OWL umgesetzte Datenaustausch kann in Teilen dem FTB 9 (Informationstechnische Anlagen und Robotik-Systeme für telemedizinische Netzwerke) sowie die Bereitstellung von Daten dem FTB 3 (Digitale Pflege- und Behandlungsdokumentation) zugeordnet werden und erfüllt entsprechende MUSS-Kriterien.
Mit der gesetzlichen Vorgabe zur Öffnung der Informationssysteme im Krankenhaus (ISiK) gemäß den Stufen 1 und 2 (gematik o.J.e) und der Repräsentation medizinischer Sachverhalte (z.B. eAU, eRezept, Patientenkurzakte) kann HL7 FHIR (HL7 o.J.) als im deutschen Gesundheitswesen gesetzt betrachtet werden. Die IHE-Orientierung der DGP OWL schließt die Nutzung von FHIR keineswegs aus, da IHE mit Profilen wie MHD (IHE o.J.b.) und dem zugehörigen Eco-System MHDS (IHE o.J.c.) die Entwicklung zu FHIR seit langem betreibt. IHE selbst ist in Bezug auf die Repräsentation von Datenobjekten agnostisch, so dass problemlos medizinische Inhalte, die strukturiert als Bundle von FHIR-Ressourcen vorliegen, mit IHE gemanagt werden können.
7. Zusammenfassung
Die DGP OWL hat erfolgreich eine regionale Gesundheitsplattform etabliert. Diese stellt neben dem intersektoralen Datenaustausch Funktionen für die Kooperation zwischen Leistungserbringern in Praxen und Krankenhäusern und zur Einbindung von Patienten in Behandlungsprozesse bereit.
8. Literatur- und Abkürzungsverzeichnis
Literatur
BAS (o.J), Richtlinie zur Förderung von Vorhaben zur Digitalisierung der Prozesse und Strukturen im Verlauf eines Krankenhausaufenthaltes von Patientinnen und Patienten nach § 21 Absatz 2 KHSFV. https://www.bundesamtsozialesicherung. ... Foerderrichtlinie_V03.pdf. Zugegriffen: 26. Januar 2023.
European Commission (o.J.a), Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council amending Regulation (EU) No 910/2014 as regards establishing a framework for a European Digital Identity. https://eur-lex.europa.eu/legal-conten ... /?uri=CELEX%3A52021PC0281.
Zugegriffen: 26. Januar 2023
gematik (o.J.a), E-Patientenakte. https://www.gematik.de/anwendungen/e-patientenakte.
Zugegriffen: 26. Januar 2023
gematik (o.J.b) Kommunikation im Medizinwesen. https://www.gematik.de/anwendungen/kim.
Zugegriffen: 26. Januar 2023
gematik (o.J.c) TI Messenger. https://www.gematik.de/anwendungen/ti-messenger.
Zugegriffen: 26. Januar 2023
gematik (o.J.d) Arena für digitale Medizin Whitepaper Telematikinfrastruktur 2.0 für ein
föderalistisch vernetztes Gesundheitssystem. https://www.gematik.de/media/gematik/M ... le_Medizin_TI_2.0_Web.pdf. Zugegriffen: 26. Januar 2023
gematik (o.J.e) Informationssysteme im Krankenhaus. https://www.ina.gematik.de/themenberei ... onssysteme-im-krankenhaus. Zugegriffen: 26. Januar 2023
HL7 (o.J.) HL7 International. https://www.hl7.org/fhir/index.html. Zugegriffen: 26. Januar 2023
Verein eFA (o.J.) Verein Elektronische Fallakte e. V.. https://www.fallakte.de/. Zugegriffen: 26. Januar 2023
IHE (o.J.a) Basic Patient Privacy Consents. https://profiles.ihe.net/ITI/TF/Volume1/ch-19.html. Zugegriffen: 26. Januar 2023
IHE (o.J.b) Mobile Access to Health Documents. https://profiles.ihe.net/ITI/MHD/. Zugegriffen: 26. Januar 2023
IHE (o.J.c) Mobile Health Document Sharing. https://profiles.ihe.net/ITI/MHDS/index.html. Zugegriffen: 26. Januar 2023
Praxisnetz (o.J.) Praxisnetz Paderborn Berufsverband e.V.. https://www. praxisnetz-pb.de/. Zugegriffen: 26. Januar 2023
Abkürzungen
DSGVO – Datenschutzgrundverordnung
eAU - elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
IHE - Integrating the Healthcare Enterprise
KHZG - Krankenhauszukunftsgesetz
KIM - Kommunikation im Medizinwesen
MHD - Mobile Access to Health Document
MHDS - Mobile Health Document Sharing
TIM - TI Messenger
TI - Telematikinfrastruktur
TI-ePA - elektronische Patientenakte der TI
XDS - Cross Enterprise Document Sharing