Das Virtuelle Krankenhaus NRW - ein telemedizinisches Netzwerk für die Regelversorgung

Netzwerk

Veröffentlicht 23.07.2023 13:10, Kim Wehrs

Hochspezialisierte fachmedizinische Expertise flächendeckend und niederschwellig verfügbar machen - über Sektorengrenzen hinweg. Mit diesem Anspruch hat das Land Nordrhein-Westfalen das Virtuelle Krankenhaus (VKh.NRW) ins Leben gerufen. 

Von Nadja Pecquet, Hagen; Markus Stein, Berlin


1. Zielsetzungen

Hochspezialisierte fachmedizinische Expertise flächendeckend und niederschwellig verfügbar machen - über Sektorengrenzen hinweg. Mit diesem Anspruch hat das Land Nordrhein-Westfalen das Virtuelle Krankenhaus (VKh.NRW) ins Leben gerufen. In der Pilotphase wird mit ausgewählten Startindikationen die Basis für ein nutzerorientiertes telekonsiliarisches Angebot geschaffen und erprobt. Langfristig soll das telemedizinische Netzwerk integraler Bestandteil der Regelversorgung in Nordrhein-Westfalen werden. Mit diesem Anspruch geht das Vorhaben weit über bisherige Modellprojekte hinaus und kann damit als Blaupause für Initiativen in anderen Ländern dienen.

Dabei ist das Virtuelle Krankenhaus nicht als Konkurrenz zu bestehenden Versorgungsstrukturen zu verstehen, sondern als ergänzendes Angebot für eine bestmögliche Patientenversorgung. Als neutraler und herstellerunabhängiger Partner bietet das VKh.NRW eine sichere und datenschutzkonforme Vermittlungsplattform und unterstützende Services für die strukturierte Durchführung und Dokumentation von Telekonsilen. Die wesentlichen Instrumente, auf die das Virtuelle Krankenhaus setzt, sind videogestützte Telekonsile zum persönlichen Austausch und die elektronische Fallakte für eine gemeinsame Sicht auf relevante Patientendaten. Dabei haben Interoperabilität und offene Schnittstellen oberste Priorität. Im Fokus steht die Integration bereits in der Praxis angewandter Lösungen, um den Zugang für die Nutzerinnen und Nutzer niederschwellig zu halten.

2. Telekonsile bei intensivmedizinischer Behandlung von COVID-19

Durch die sich ausbreitende Corona-Pandemie erhielt das Virtuelle Krankenhaus unverhofft einen entscheidenden Schub. Schwer erkrankte Patientinnen und Patienten mussten in großer Zahl intensivmedizinisch versorgt werden, als noch kaum Expertise zu der neuen Erkrankung vorlag. Das NRW-Gesundheitsministerium hat damals sofort reagiert und noch vor der institutionellen Errichtung des Virtuellen Krankenhauses mit Unterstützung der Universitätskliniken in Aachen und Münster Maßnahmen ergriffen, um diese Patientinnen und Patienten in einer VKh-Vorstufe optimal zu versorgen.

Durch die regelmäßigen Fallkonsultationen zwischen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den universitätsmedizinischen Expertenteams konnten die verfügbaren intensivmedizinischen Kapazitäten optimal ausgeschöpft und die COVID-19-Patienten bestmöglich heimat- und familiennah versorgt werden. Die in einer ersten Analyse erhobenen Daten, die auf eine deutlich verringerte Letalität hinweisen (Dohmen et al. 2021), bestätigten sich auch im weiteren Verlauf der Corona-Pandemie. Seit April 2020 wurden mittlerweile knapp 4.000 teleintensivmedizinische Konsile durchgeführt.

Anfragende Kliniken wählen über eine Internetseite eine der beiden konsilgebenden Universitätskliniken in Aachen oder Münster aus und geben über ein Formular wenige Kerndaten zu der anfragenden Institution, der behandelnden Ärztin/dem behandelnden Arzt, zur Patientin/zum Patienten und zur Art des Konsils (Erst- oder Folgekonsil) an. Die formularbasierten Daten werden in strukturierter Form in der konsilgebenden Klinik verarbeitet und in Arbeitslisten übertragen. Nach Eingang der Anfrage schickt die konsilgebende Klinik eine elektronische Einladung mit Zeitpunkt sowie Zugangscode zur elektronischen Visite. Daraufhin können die Ärztinnen und Ärzte beider Kliniken eine synchrone Telekonsultation starten und den betreffenden COVID-19-Fall direkt besprechen. Durch die Audio-Videofunktion werden auch Bilder der Patientinnen und Patienten sowie Informationen zur eingesetzten Medizintechnik geteilt. Abbildung 1 zeigt den Arbeitsplatz im Universitätsklinikum RWTH Aachen während der Durchführung einer Telekonsultation.

 

Abbildung 1: Durchführung eines COVID-19-Telekonsils im VKh (Quelle: Dr. S. Dohmen, Universitätsklinikum RWTH Aachen)

Um der Dringlichkeit gerade bei beatmungspflichtigen COVID-19-Fällen gerecht zu werden, steht die universitätsmedizinische Expertise im 24/7-Betrieb bereit.

Neben der synchronen Besprechung von COVID-19-Fällen erfolgt der sichere asynchrone Austausch erforderlicher Patientendaten über eine Elektronische Fallakte (EFA) in der vom Elektronische FallAkte e. V. veröffentlichten Spezifikation 2.0, die aktuellen Standards aufgrund ihrer durchgehenden Architektur auf IHE-Profilen entspricht (EFA Spezifikation, o.J.). Mit der EFA können die konsilnehmenden Kliniken relevante Dokumente hochladen, die automatisch mit den IHE XDS Value Sets classCode und typeCode annotiert werden.

Zur eigentlichen konsilbegleitenden Dokumentation wurde von den Universitätskliniken ein COVID-19-Datensatz entwickelt und in ein Excel-Tabellenblatt überführt. Ärztinnen und Ärzte sowohl der konsilnehmenden als auch der konsilgebenden Kliniken müssen die Datei aktiv aus der Fallakte herunterladen, sie mit neuen Daten ergänzen und dann die neue Version wieder in die Fallakte hochladen. Zur Vereinfachung wurde ein HTML-Formular entwickelt, das direkt in der Fallakte aufgerufen und befüllt werden kann. Abbildung 2 zeigt einen Screenshot dieses HTML-Formulars, das schon die Erfassung mehrerer Telekonsultationen für einen COVID-19-Fall vorsieht. Das Speichern der erfassten Daten führt im Hintergrund zur Anlage einer PDF/A-Datei innerhalb der Fallakte.

 

Abbildung 2: HTML-Formular zur konsilbegleitenden Dokumentation im VKh (Quelle: RZV Rechenzentrum Volmarstein GmbH)

3. Weiterer Ausbau des Virtuellen Krankenhauses aufgrund der positiven Ergebnisse

Ergänzend zur intensivmedizinischen COVID-19-Beratung, gingen im Frühjahr 2022 weitere Indikationen in den Pilotbetrieb (Abbildung 3). Für alle Indikationen wird die Expertise qualitätsgesichert von den vom Land ausgewiesenen Zentren zur Verfügung gestellt. Das Konsilangebot richtet sich sowohl an den stationären wie auch den ambulanten Bereich. Die Pilotphase mit zwei Anbietern der EFA soll unter anderem dazu genutzt werden, die Aktenfunktionalität mit dem Fokus auf Interoperabilität weiterzuentwickeln und ggf. die Spezifikation gemeinsam mit dem Fallakten-Verein fortzuschreiben.


Abbildung 3: Pilotindikationen im Virtuellen Krankenhaus NRW

Ausgehend von den Anforderungen der Ärztinnen und Ärzte zur Dokumentation der intensivmedizinischen Konsile innerhalb der EFA, wurden auch für die neuen Indikationen kontextsensitive HTML-Formulare, wie oben beschrieben, zur konsilbegleitenden Dokumentation entwickelt und hinterlegt. Die asynchrone Kommunikation ist insbesondere für Indikationen von Bedeutung, für die von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten im Vorfeld zahlreiche Dokumente (Arztbriefe, Befunde etc.) zur Begutachtung durch die Konsiliarärztinnen und ‑ärzte bereitgestellt werden müssen. Dieser Prozess wird mit einem Benachrichtigungsdienst per E-Mail unterstützt, indem die Medizinerinnen und Mediziner, aktiviert durch Änderungen in der Akte der Konsilpartner, eine Nachricht erhalten, in der ein kryptifizierter Link direkt auf die Elektronische Fallakte verweist. Der Benachrichtigungsdienst mit direktem Verweis auf die fallbezogenen, relevanten Dokumente und Daten soll die Kommunikation unterstützen und die Notwendigkeit von ad-hoc Telefonaten sowie die Übertragung von Dokumenten per Fax eindämmen helfen.

Eine weitere Vereinfachung wird über eine engere Verzahnung der EFA mit den Primärsystemen erzielt. User Defined Buttons ermöglichen den Absprung in die Fallakte, eine direkte XDS-basierte Kommunikation mit der Fallakte kann ebenfalls eingerichtet werden. Daneben können die Konsilberichte abgeschlossener Fälle über ein sicheres Austauschverzeichnis direkt in die Archivsysteme importiert werden.

Im nächsten Entwicklungsschritt wird die Verknüpfung der EFA-Backendstrukturen mit einem DICOM-Archiv gemäß definierter Standards eingerichtet (vgl. Abbildung 4). Konsilnehmende Einrichtungen können dann nach Anlage einer Fallakte Bilder und Serien entweder über einen webbasierten DICOM-Uploader oder über ein Netzwerk wie den Westdeutschen Teleradiologieverbund oder TKmed direkt in das DICOM-Archiv laden. Über Links in der Akte lässt sich ein DICOM-Viewer zur Betrachtung der hochgeladenen Bilder öffnen.

 

Abbildung 4: Architekturskizze zur Verknüpfung eines DICOM-Archivs mit einer IHE-basierten Aktenlösung (nach IHE Cookbook)

Das Ziel der Pilotphase ist es, das telemedizinische Partnernetzwerk aufzubauen, Vertrauen in die Strukturen und Plattform des VKh.NRW zu schaffen und den Mehrwert des kollegialen Austauschs in den einzelnen Indikationen erfahrbar zu machen. Als nächste Schritte stehen zusätzliche Indikationen, der Ausbau des Netzwerkes auch für weitere Gesundheitsberufe und die Bearbeitung von Forschungsfragestellungen auf dem Plan.

4. Herausforderungen und Ausblick

Die telemedizinische Kooperation zwischen Leistungserbringern birgt ein enormes Potenzial, um Versorgungsprozesse qualitätsorientiert zu verbessern. Allerdings steht sie erst ganz am Anfang, die Unsicherheit bei der Umsetzung ist noch groß. Dies betrifft die Um- und Neugestaltung von Prozessen, die Qualifikation der Nutzerinnen und Nutzer, technische Fragestellungen, Fragen zur Abrechnung, Datenschutz- und Haftungsfragen sowie Investitionsentscheidungen. Es verwundert also nicht, dass die digitalgestützte einrichtungs- und professionsübergreifende Zusammenarbeit nach wie vor trägerintern und projektbezogen in abgeschlossenen Netzwerken und bilateralen Kooperationen stattfindet.

Leider bedeutet jede dieser abgegrenzten Inseln eigene Entwicklungskosten, eigene Datenschutzerklärungen, ein eigenes Vertragswerk und die Bindung an meist proprietäre IT-Anwendungen. Und das alles, um analoge Prozesse digital abzubilden, inklusive der schon im analogen Setting bestehenden Probleme und Einschränkungen, ohne echte Innovation und ohne den Mehrwert, den die Digitalisierung bietet, voll auszuschöpfen. Für die Leistungserbringer fehlen Anreize, die digital gestützte Zusammenarbeit voranzutreiben. Damit die Telemedizin fester Bestandteil der Regelversorgung werden kann, braucht es eine auskömmliche Vergütung und die Abschaffung von Fehlanreizen im System. Außerdem sollen technologische Insellösungen weiterhin überwunden werden, um Nutzerinnen und Nutzer des VKh.NRW möglichst einfach aus ihren Primärsystemen heraus die Vorteile der telemedizinischen Unterstützung anbieten zu können.

Die gesamte Diskussion rund um die Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung ist geprägt von Partikularinteressen der verschiedenen Akteure und Verantwortlichen, der Orientierung an Legislatur- und Wahlperioden in Politik und Selbstverwaltung, von fehlender Investitionssicherheit für die IT-Infrastruktur sowie von Unsicherheit im Rahmen der Umsetzung, insbesondere bei Datenschutz und Haftungsfragen. Trotz zahlreicher Aktivitäten und hoher Investitionen ist es bisher nicht gelungen, ein flächendeckendes und engmaschiges digital gestütztes Versorgungsnetzwerk aufzubauen, das Patientinnen und Patienten zugutekommt. Die bisherigen Entwicklungen tragen weiterhin zu einer heterogenen Versorgungslandschaft bei, in der die Qualität der Versorgung davon abhängt, wo die Patientinnen und Patienten in das Versorgungssystem eintreten. Ein Ausrollen und Verknüpfen erfolgreicher Ansätze, Projekte und Initiativen findet noch immer nicht statt.

Dabei ist die Stärkung von Kommunikations- und Kooperationsstrukturen wesentlich für eine zukunftsfähige und qualitativ hochwertige Versorgung. Wenn sichergestellt sein soll, dass bei der digitalen Transformation des Gesundheitswesens nicht wirtschaftliches Interesse, sondern die Qualität der Versorgung im Vordergrund steht, muss dieser Wandel staatlich begleitet werden. Aus diesem Grund hat die nordrhein-westfälische Landesregierung in ihrem gemeinsamen Zukunftsvertrag vereinbart, das Angebot des Virtuellen Krankenhauses zu verstetigen und weiter auszubauen (CDU und Grüne 2022, S. 95). Bei der Umsetzung der neuen Krankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen soll das Virtuelle Krankenhaus als zentrales Element für die digitale Weiterentwicklung der Krankenhauslandschaft die Basis für den Ausbau einer nachhaltigen und digitalen Patientenversorgung schaffen (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 2022, S. 34).

5. Literatur


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